Schnaps und Kartoffelsalat
Teil 3
... am Heiligen Abend ist Opa weg.
Als Papa ihn um fünf Uhr abholen will, ist sein Zimmer leer.
Er kehrt unverrichteter Dinge zurück.
Mama schimpft, nicht mal die einfachsten Aufgaben könne man ihm übertragen, ob er auch überall geguckt habe.
"Wie soll man denn bitte in einem 12-qm-Zimmer einen ausgewachsenen Menschen übersehen?"
Mama schnappt sich den Autoschlüssel und faucht: "Wenn man nicht alles selber macht!" Ich fahre mit.
Opa ist tatsächlich nicht in seinem Zimmer. Außer ihm fehlen Herr von Reger, Herr Krummbiegel, Herr Schorschendorf
und Frau Wittmüller. Seit dem Kaffee um 15 Uhr hat sie niemand mehr gesehen. Da Frau Wittmüller nur mit einem Rollator vorankommt, können sie nicht weit gekommen sein.
Wir laufen zunächst zu der nahegelegenen Kirche. Dort findet gerade die Familienweihnacht statt.
Ich sehe keinen Grund, warum Opa freiwillig an einem Kindergottesdienst teilnehmen sollte, sage jedoch nichts.
Als die Leute zum Glockengeläut herausströmen, ist Opa nicht dabei. Die anderen sind es auch nicht.
Wir sehen auf dem Friedhof nach, weil die Pflegerin meint, dass alte Menschen an solchen Tagen gern melancholisch werden. Der Friedhof liegt still und verlassen da. Mittlerweile ist es fast sieben. "Die Ente ist längst zäh", schimpft Mama. "Was hat dein Großvater sich nur dabei gedacht!" Wenn sie Opa Großvater nennt, ist es ernst. Ich wende ein, dass Opa sowieso keine Ente wollte, woraufhin Mama mir einen so bösen Blick zuwirft.
Mittlerweile sind alle Krankenhäuser benachrichtigt. Die Polizei hat eine Vermisstenmeldung aufgenommen. Vorsichtshalber gehen wir zum Mühlenbach. Ich kann mir nicht vorstellen, wie fünf erwachsene Menschen gleichzeitig im knietiefen Wasser ertrinken.
Ratlos und erschöpft gehen wir durch die Stadt zurück, Mama und ich, zwei Pflegerinnen und der kathoische Pfarrer, der eigentlich eine Messe feiern wollte, zu der jedoch niemand erschien. Hinter den Fenstern blitzen Weihnachtsbäume.
Da höre ich Gelächter und ein Lachen, das ich unter Tausenden heraushören würde. So lacht nur Opa.
Wir stehen vor "Kunos Eck". Es sieht wenig vertrauenserweckend aus, das erkenne sogar ich.
Im Fenster blinkt ein Stern abwechselnd rot, blau und grün. Drei halbe Hähnchen drehen sich an Spießen.
Sie sitzen auf Barhockern, keine Ahnung, wie sie da raufgekommen sind. In ihrer Mitte eine riesige Portion Kartoffelsalat.
Ihre Backen glühen. Sie prosten sich zu und lachen. Ich gucke zu Mama.
Wir haben jetzt die Wahl: hineingehen und Weihnachten feiern oder Opa herausholen und Weihnachten fällt aus.
Wir gehen hinein.
In jenem Moment weiß ich es noch nicht, aber dieses Weihnachten wird unser letztes gemeinsames sein.
Und das Einzige, das in meiner Erinnerung nicht in einem besinnlichen Lichtermeer verschwimmt.
(aus "Das Weihnachtsschaf" von Susanne Niemeyer)