Wie es ist, Einsiedler zu sein
Herr W. ist Einsiedler. Das ist ein aussterbender Beruf heutzutage.
Aber genaugenommen ist das auch gar nicht Herrn W.s Beruf, sondern sein Alltag.
Herr W. wohnt in einem Schäferkarren, der ist einmeterneunzig lang.
Sein Wohnzimmer ist die Wiese, der Wald, die Pflaumenbäume. Die Zimmerdecke reicht zum Himmel.
Im Winter ist dieses Wohnzimmer unbeheizt, dann wird es eng im Wagen.
Herr W. lebt allein auf weiter Flur. Einsam ist er trotzdem nicht.
Es gibt Vogeljunge und streunende Katzen und eine Freundin gibt es auch.
Wenn ich Einsiedler höre, denke ich an Mönch, Meditation und Mittelalter.
Nichts von dem trifft auf Herrn W. zu.
Er ist Grafikdesigner, kauft sein Essen bei Penny und die Freundin wohnt in der Stadt.
Manchmal besucht sie ihn, manchmal er sie.
Ansonsten hat Herr W. nicht viel: ein Bett, einen Tisch, eine Sitztruhe und einen gusseisernen Ofen.
Er hatte mal eine Werbeagentur, die verschenkte er an seine Mitarbeiter. Etwas zu haben, ist für ihn keine Kategorie. Wahrscheinlich, weil das Sein soviel Raum einnimmt.
Ich buchstabiere mein Leben durch und komme auf eine Menge Dinge, die ich habe: sieben Sofakissen, drei Bücherregale mit wenig Lücken, eine Handvoll Freunde und eine mittelprächtige Altersvorsorge. Das Wort >>haben<< taucht in meiner Sprache oft auf, und es taucht auf, wo es gar nicht hingehört: Ich habe Lust, Pommes zu essen. Ich habe Angst vor Terroristen, Spinnen und dem jährlichen Steuerbescheid. Ich habe Erfahrungen, als handle es sich dabei um einen Schrank voller Dinge. Und habe ich meine Freunde wirklich?
Dabei könnte ich es auch anders sagen: Ich will Pommes essen. Ich bin ängstlich. Ich erfahre oder erlebe etwas.
Ich bin Freundin. Das ist Sein statt Haben. Es ist unmittelbarer. Es betrifft mich direkter.
Etwas zu haben gaukelt Sicherheit vor. Manchmal zu Recht, oft aber auch nicht. Ich bin die mit den vielen Scheunen.
Dabei könnten Mäuse, der Tod, Bauchschmerzen oder eine Lebensänderung vieles von dem, was ich sicher zu haben meine, sinnlos machen. Was ich einmal habe, schleppe ich mit mir herum. Und damit meine ich gar nicht an erster Stelle die Dinge.
Man kann genauso Ängste, Hoffnungen und Erwartungen mit sich tragen, die Hände und Herz binden.
Haben heißt sammeln. Sein heißt, sich auszusetzen.
Herr W. hat sich irgendwo auf einer Wiese ausgesetzt, um zu leben.
Nicht mehr und nicht weniger.
Manchmal kommen Leute. Die wollen sehen, wie er so lebt. Vielleicht auch, um zu schauen, wie verrückt er ist.
Sie wollen eine Antwort haben, warum einer das tut. Gleichzeitig wollen sie wissen, wie das geht, Ruhe zu haben, Sinn.
Sie wollen ein Rezept, das sie mitnehmen können. Auch so etwas hat Herr W. nicht. Er hat keine Botschaft, er tut nichts Besonderes, außer auf der Bank über dem Tal zu sitzen. Er ist einfach da.
Ich mag den Gedanken, dass das reicht.
(aus "Mut ist ... Kaffee trinken mit der Angst", Susanne Niemeyer)