Wie es ist, rauszufliegen
Es war August. Die Sonne schien. Der Engel kam am späten Nachmittag. Er stellte ihr ein Bein.
Sie fiel auf die Nase. Als sie sich aufrappeln wollte, befahl er: Du bleibst liegen.
Der Arzt war seiner Meinung. Sie wurde in ein Bett gelegt. Dann ging das Licht aus.
In dieser ersten Nacht im Krankenhaus schlief sie gut.
Am Morgen bat sie um ihr Notebook. Den Kalender. Das Ladegerät für ihr Handy.
Ein WLAN-Passwort sowieso. Als sollte der Alltag einfach weitergehen.
Vergiss es, sagte der Engel.
Sie durfte nicht aufstehen. Gar nicht.
Die zweite Nacht kam, die dritte, die vierte.
Eine Woche verging.
Ihr Krankenhauszimmer war hell und freundlich, draußen war Sommer.
Man hätte ins Freibad gehen können oder in einen Biergarten. Sie nicht.
Während sie so dalag, merkte sie, dass es sie nicht störte.
Sie, die schon Verpassungsangst hatte, sobald der erste Sonnenstrahl die Wolkendecke durchbrach,
sie lag jetzt hier unter weißen Laken und war erleichtert, dass ihr jemand das Wollen abgenommen hatte.
Das Müssen sowieso.
Sie sagte alle Termine ab. Eine automatische Antwort kümmerte sich um ihre Emails.
Die Welt würde sich ohne sie weiterdrehen, das vergisst man ja manchmal.
Selbst dann, wenn man keine Staatsgeschäfte zu lenken hat, sondern nur ein paar Sachen zu schreiben,
Aufträge abzugeben, Mittagessen zu kochen oder Hühner zu füttern.
Aber was könnte eigentlich schlimmstenfalls passieren?
Jemand brachte ihr ein Buch mit, sie verschlang es und erinnerte sich daran, dass sie gern las.
Dann döste sie ein bisschen. Wann hatte sie sich ohne schlechtes Gewissen einen Mittagsschlaf gegönnt?
Wenn sie erwachte, gab es Obstsalat oder Tee oder einen Amerikaner, sie fühlte sich wie in einem Sanatorium,
obwohl das doch ein ganz normales Krankenhaus war, und Privatpatientin war sie auch nicht. Auf einmal war ihr
verordnet, wonach sie sich so lange gesehnt hatte. Ruhe.
Der Engel lächelte.
Sie wurde untersucht. Sie wurde operiert. Der Tod ging an der Tür vorbei, er wollte nicht zu ihr. Aber sie hatte ihn gesehen.
Die anderen auf der Station waren Raucher. Oder alt. Oder übergewichtig. Sie nicht. Sie haderte nicht, es war ja nochmal gut gegangen, aber sie wunderte sich.
Du musst dein Leben ändern, sagte der Engel, und damit meinte er kein gesünderes Essen. Sie wusste genau, was er meinte: Nimm dir Zeit für Pausen. Buchstabiere das Wort Feierabend. Lies, spiel Klavier, zeichne. Das ist es doch, was dich erfüllt.
Kein Internet wird dir das bieten. Das weißt du. Beweg dich. Geh spazieren, auch bei Regen. Die zehn Minuten zum Supermarkt gelten nicht. Triff Freunde, spiel Siedler oder Karten. Geh ins Kino, weißt du nicht mehr, wie gern du abseitige Filme siehst? Wann hast du aufgehört, Karten fürs Ballett zu kaufen? Tagebuch zu schreiben? Comics zu lesen? Wann hast du grimmig beschlossen, einer Pflicht zu folgen, die nur du dir selbst auferlegt hast?
Sie wußte genau, was der Engel meinte. Sie hatte es nur kurz vergessen.
(aus "Mut ist ... Kaffeetrinken mit der Angst" von Susanne Niemeyer