Hallo Leute,
diese Medi-Diskussionen sind ja endlos. Mir gefällt etwas daran nicht.
Häufig nehmen Menschen die Extremposition ein, Medikamente seien schlecht, schädlich, veränderten die Persönlichkeit, machten abhängig und vor allem: seien überflüssig, nicht notwendig. Wer Medikamente nimmt, kommt in Verdacht, faul zu sein, unfähig zu sein, sich nicht zusammenreißen zu können – gleichzeitig sagt man ihm aber, die Medikamente würden ihm nicht helfen können.
Wenn man eine solche Extremposition einnimmt, polarisiert man damit die ganze Diskussion. Will sagen: Wenn mir jemand rät, ich solle meine Medikamente absetzen, dann unterstellt er mir nicht selten, ich hätte auch eine Extremposition: die Medikamente seien das Allheilmittel.
Extrempositionen sind fast immer falsch. Es geht mir auf den Keks, dass mir von Medikamentenfeinden vorgeworfen wird, ich sei ein blinder Medikamenten-Jünger – nur weil der Medikamentenfeind extrem, radikal und pauschalisierend vorgeht, heißt das nicht, dass ich das auch tue, dass ich nicht differenziert und vernünftig Vor- und Nachteile der Medikamenteneinnahme berücksichtigen kann.
Wer mit einer solchen Extremposition konfrontiert wird, fühlt sich häufig unter Zugzwang, zu betonen, Medikamente seien kein Heilmittel (da habe der Medikamentenfeind recht), aber ohne Medikamente ginge es auch nicht. Das ist eine sehr interessante Aussage. Wenn ich über die Medikamente nachdenke, die bei anderen Erkrankungen eingesetzt werden – sind da Heilmittel darunter? Höchst selten. Fast immer handelt es sich um Mittel, die helfen, aber nicht (alleine) heilen. Trotzdem fühlt sich niemand bemüßigt, dem Grippe-Erkrankten zu sagen, dass ihn sein Aspirin nicht heilen werde (sondern nur Zeit und Ruhe), oder dem Fuß-Lahmen, dass ihn seine Krücken nicht heilen werden (sondern nur Ruhe, Schonung und Training), oder auch dem Diabetiker, dass ihn seine Insulinspritzen nicht heilen werden.
An Psychopharmaka scheint zuweilen der Anspruch gestellt zu werden, sie müssten heilen – wenn sie nicht heilten, seien sie schädlich. Das ist Käse. Psychopharmaka heilen in den seltensten Fällen; meist helfen sie – wie fast alle anderen Medikamente auch. Psychopharmaka haben Nebenwirkungen – wie fast alle anderen Medikamente auch (Aspirin verdünnt das Blut und macht Schnittwunden damit lebensgefährlich; von Nebenwirkungen etwa bei Chemotherapie gar nicht zu reden).
Nur weil ein Psychopharmakum nicht heilt, heißt das noch lange nicht, dass es schädlich oder überflüssig ist.
Zwei weitere Aspekte werden hier häufig übersehen, wie ich finde. Nehmen wir einen leichteren grippalen Infekt als Beispiel: Glieder- und Kopfschmerzen. Nimmt der Patient Aspirin, fühlt er sich vorübergehend besser (Schmerzmittel) und die Heilung wird unter Umständen beschleunigt (unter anderem durch den entzündungshemmenden Effekt von Aspirin). Nimmt der Patient kein Aspirin, dann hat er leichte bis starke Schmerzen und wird trotzdem nach ein paar Tagen gesund. Man kann hier den Standpunkt einnehmen, Aspirin bei grippalen Infekten sei Luxus; es sei eine Hilfe, aber nicht lebensnotwendig.
Das kann man auf eine bipolare Störungen so nicht übertragen. Alle Bipolar-Patienten erleben Zustände, die massiv lebensbeeinflussend sind (wenn nicht, dann haben sie keine bipolare Störung, sondern eine Zyklothymia oder ganz was anderes). Medikamente können helfen, diese Phasen abzumildern (um es kurz zu fassen). Wer aber jetzt glaubt, das sei wie bei Aspirin ein Luxus, auf den man verzichten kann, der irrt sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle. Bipolare Phasen sind in der Regel so lebensbeeinflussend, dass es hier nicht um einen Luxus geht, sondern um eine Hilfe, auf die man vernünftigerweise nicht verzichten kann. Medikamente heilen nicht, sondern helfen – aber diese Hilfe ist in vielen Fällen unabdingbar für das Leben und das Überleben. Für viele Patienten geht es ohne Medikamente nicht (und da sind auch einige darunter, die glauben, sie kämen ohne aus).
Die Extremposition, die man hier einnehmen muss, lautet: Medikamente heilen nicht, aber ohne Medikamente geht es nicht. Wenn es ohne Medikamente nicht geht, dann geht der Vorwurf, die Mittel heilten ja nicht und man solle sie deshalb nicht nehmen, schlichtweg völlig am Thema vorbei.
Da eine bipolare Störung unheilbar ist, ist der Anspruch, Medikamente sollten heilen, absurd. Der Vorwurf, das Medikament sei kein Heilmittel, ist aus den gleichen Gründen absurd.
Der zweite Aspekt, der hier manchmal übersehen wird, ist die Tatsache, dass bipolare Störungen in über 90 % der Fälle, die mehr als drei Phasen erlebt haben, lebenslang bestehen (so Jules Angst). Das hat zwei Auswirkungen auf die Bewertung von Medikamenten:
Die allermeisten Erkrankungen bestehen vorübergehend – eine bipolare Störung besteht lebenslang. Das bedeutet nach schlichter Logik, dass eine Medikamenteneinnahme auch lebenslang erforderlich ist – Aus, Punkt, Ende. Die Fälle, die ohne Medikamente stabil bleiben, sind sehr selten; und in vielen dieser Fälle ist jetzt noch gar nicht abzusehen, ob es nicht künftig zu einem Rückfall kommen wird, den Medikamente hätten verhindern können. Es gibt in der medizinischen Literatur Beispiele von Lithiumpatienten, die jahrzehntelang symptomfrei waren, dann ihr Lithium absetzten und nach einer kurzen Pause wieder rückfällig wurden. Ein lebenswertes Leben ohne Medikamente ist die Ausnahme, nicht die Regel („lebenswert“ meint hier nicht unbedingt „stabil“).
Man darf an Bipolar-Medikamente also gar nicht mit dem grundlegenden Anspruch herangehen, sie seien nur eine Übergangslösung (wie Aspirin im Falle einer Grippe). Bipolar-Medikamente sind grundsätzlich eine Permament-Hilfe und nur ausnahmsweise eine Übergangslösung.
Und als letztes: Bipolare Störungen sind dem Willen ein großes Stück weit entzogen. Ich kann indirekt Einfluss nehmen, mit Psychotherapie, einem gesunden Lebenswandel und mit medizinischer Therapie (Pharmakotherapie) – aber mich zusammenreißen, das kann ich nur begrenzt. Wenn ich mir den Fuß breche, dann kann ich die Zähne zusammenbeißen und nicht jammern (auch wenn ich das nicht erstrebenswert finde); wenn ich eine bipolare Störung habe, dann kann ich die Zähne auch zusammenbeißen, aber nur solange, wie mich keine ausgeprägte Manie oder Depression erwischt (denn die schalten meine Willensanstrengung einfach aus).
Ein Bipolar-Leben ohne Medikamente ist schwer und verlangt dem Patienten viel ab. Die Leistung, die er täglich bringt, ist keine geringe. Das Gleiche trifft aber genauso auf die meisten Patienten zu, die Medikamente nehmen – auch ihr Leben ist schwer und auch ihre Leistung ist keine geringe. Ich treffe ab und an auf den Gedanken, dass es etwas mit Leistung oder mit Erfolg zu tun habe, ohne Medikamente auszukommen – wer ohne Medikamente lebt, der „schafft das“, der ist bewundernswert. Das ist eigentlich unzutreffend. Wer ohne Medikamente lebt, hat das Glück, dass seine Erkrankung (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) nicht übermächtig ist. Daran hat der Patient womöglich einen Anteil (gesunder Lebenswandel, Psychotherapie), aber es ist nicht sein Verdienst und nicht seine Leistung – sondern sein Glück.
Umgekehrt bedeutet das: Wer Medikamente braucht, hat nicht versagt. Es ist das Wesen von Krankheiten, dass sie die menschlichen Fähigkeiten übersteigen. Wer ohne Medikamente nicht auskommt, hat, in gewisser Weise, großes Pech – aber es ist nicht seine Schuld.
Sicher kann ein Bipolar-Patient, der Medikamente nimmt, auch ein Versager sein, unverantwortlich mit sich umgehen oder nicht um seine Gesundheit kämpfen. Aber die Tatsache, dass er Medikamente nimmt, bedeutet alleine noch gar nichts.
Ich kann mir vorstellen, dass manche Patienten das nicht gerne hören, die sich aus eigener Kraft von Medikamenten freigeschwommen haben – aber es ist dennoch wahr: Das war nicht nur Eure eigene Kraft, das war auch Glück. Ohne Glück, nur aus eigener Leistung geht das nicht – das ist bei bipolaren Störungen nun mal so.
Es wird Zeit, Medikamente nicht zu überschätzen (Allheilmittel), aber auch nicht zu unterschätzen (verzichtbarer Luxus). Und es wird Zeit, denjenigen, die versuchen, Medikamente differenziert zu sehen, nicht mehr vorzuwerfen, sie seien verblendete Pharmako-Jünger. Das ist nicht wahr. Das Gegenteil ist der Fall: Sie versuchen, zu einer vernünftigen, abwägenden Position zu kommen. Zu dieser Position kann auch gehören, Medikamente zu reduzieren oder es vorsichtig ohne Medikamente zu versuchen – und das kann, mit etwas Glück, auch gelingen.
Wer Medikamente dagegen per se verteufelt oder sich Illusionen hingibt, der ist der Verblendete.
Viele Grüße
otacon
PS: Entschuldigt, dass ich heute nicht ganz so strukturiert und verständlich schreibe wie sonst.
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