Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

26. 12. 2010 10:48
Hallo Leute,

diese Medi-Diskussionen sind ja endlos. Mir gefällt etwas daran nicht.

Häufig nehmen Menschen die Extremposition ein, Medikamente seien schlecht, schädlich, veränderten die Persönlichkeit, machten abhängig und vor allem: seien überflüssig, nicht notwendig. Wer Medikamente nimmt, kommt in Verdacht, faul zu sein, unfähig zu sein, sich nicht zusammenreißen zu können – gleichzeitig sagt man ihm aber, die Medikamente würden ihm nicht helfen können.

Wenn man eine solche Extremposition einnimmt, polarisiert man damit die ganze Diskussion. Will sagen: Wenn mir jemand rät, ich solle meine Medikamente absetzen, dann unterstellt er mir nicht selten, ich hätte auch eine Extremposition: die Medikamente seien das Allheilmittel.

Extrempositionen sind fast immer falsch. Es geht mir auf den Keks, dass mir von Medikamentenfeinden vorgeworfen wird, ich sei ein blinder Medikamenten-Jünger – nur weil der Medikamentenfeind extrem, radikal und pauschalisierend vorgeht, heißt das nicht, dass ich das auch tue, dass ich nicht differenziert und vernünftig Vor- und Nachteile der Medikamenteneinnahme berücksichtigen kann.

Wer mit einer solchen Extremposition konfrontiert wird, fühlt sich häufig unter Zugzwang, zu betonen, Medikamente seien kein Heilmittel (da habe der Medikamentenfeind recht), aber ohne Medikamente ginge es auch nicht. Das ist eine sehr interessante Aussage. Wenn ich über die Medikamente nachdenke, die bei anderen Erkrankungen eingesetzt werden – sind da Heilmittel darunter? Höchst selten. Fast immer handelt es sich um Mittel, die helfen, aber nicht (alleine) heilen. Trotzdem fühlt sich niemand bemüßigt, dem Grippe-Erkrankten zu sagen, dass ihn sein Aspirin nicht heilen werde (sondern nur Zeit und Ruhe), oder dem Fuß-Lahmen, dass ihn seine Krücken nicht heilen werden (sondern nur Ruhe, Schonung und Training), oder auch dem Diabetiker, dass ihn seine Insulinspritzen nicht heilen werden.

An Psychopharmaka scheint zuweilen der Anspruch gestellt zu werden, sie müssten heilen – wenn sie nicht heilten, seien sie schädlich. Das ist Käse. Psychopharmaka heilen in den seltensten Fällen; meist helfen sie – wie fast alle anderen Medikamente auch. Psychopharmaka haben Nebenwirkungen – wie fast alle anderen Medikamente auch (Aspirin verdünnt das Blut und macht Schnittwunden damit lebensgefährlich; von Nebenwirkungen etwa bei Chemotherapie gar nicht zu reden).

Nur weil ein Psychopharmakum nicht heilt, heißt das noch lange nicht, dass es schädlich oder überflüssig ist.


Zwei weitere Aspekte werden hier häufig übersehen, wie ich finde. Nehmen wir einen leichteren grippalen Infekt als Beispiel: Glieder- und Kopfschmerzen. Nimmt der Patient Aspirin, fühlt er sich vorübergehend besser (Schmerzmittel) und die Heilung wird unter Umständen beschleunigt (unter anderem durch den entzündungshemmenden Effekt von Aspirin). Nimmt der Patient kein Aspirin, dann hat er leichte bis starke Schmerzen und wird trotzdem nach ein paar Tagen gesund. Man kann hier den Standpunkt einnehmen, Aspirin bei grippalen Infekten sei Luxus; es sei eine Hilfe, aber nicht lebensnotwendig.

Das kann man auf eine bipolare Störungen so nicht übertragen. Alle Bipolar-Patienten erleben Zustände, die massiv lebensbeeinflussend sind (wenn nicht, dann haben sie keine bipolare Störung, sondern eine Zyklothymia oder ganz was anderes). Medikamente können helfen, diese Phasen abzumildern (um es kurz zu fassen). Wer aber jetzt glaubt, das sei wie bei Aspirin ein Luxus, auf den man verzichten kann, der irrt sich in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle. Bipolare Phasen sind in der Regel so lebensbeeinflussend, dass es hier nicht um einen Luxus geht, sondern um eine Hilfe, auf die man vernünftigerweise nicht verzichten kann. Medikamente heilen nicht, sondern helfen – aber diese Hilfe ist in vielen Fällen unabdingbar für das Leben und das Überleben. Für viele Patienten geht es ohne Medikamente nicht (und da sind auch einige darunter, die glauben, sie kämen ohne aus).

Die Extremposition, die man hier einnehmen muss, lautet: Medikamente heilen nicht, aber ohne Medikamente geht es nicht. Wenn es ohne Medikamente nicht geht, dann geht der Vorwurf, die Mittel heilten ja nicht und man solle sie deshalb nicht nehmen, schlichtweg völlig am Thema vorbei.

Da eine bipolare Störung unheilbar ist, ist der Anspruch, Medikamente sollten heilen, absurd. Der Vorwurf, das Medikament sei kein Heilmittel, ist aus den gleichen Gründen absurd.



Der zweite Aspekt, der hier manchmal übersehen wird, ist die Tatsache, dass bipolare Störungen in über 90 % der Fälle, die mehr als drei Phasen erlebt haben, lebenslang bestehen (so Jules Angst). Das hat zwei Auswirkungen auf die Bewertung von Medikamenten:

Die allermeisten Erkrankungen bestehen vorübergehend – eine bipolare Störung besteht lebenslang. Das bedeutet nach schlichter Logik, dass eine Medikamenteneinnahme auch lebenslang erforderlich ist – Aus, Punkt, Ende. Die Fälle, die ohne Medikamente stabil bleiben, sind sehr selten; und in vielen dieser Fälle ist jetzt noch gar nicht abzusehen, ob es nicht künftig zu einem Rückfall kommen wird, den Medikamente hätten verhindern können. Es gibt in der medizinischen Literatur Beispiele von Lithiumpatienten, die jahrzehntelang symptomfrei waren, dann ihr Lithium absetzten und nach einer kurzen Pause wieder rückfällig wurden. Ein lebenswertes Leben ohne Medikamente ist die Ausnahme, nicht die Regel („lebenswert“ meint hier nicht unbedingt „stabil“).

Man darf an Bipolar-Medikamente also gar nicht mit dem grundlegenden Anspruch herangehen, sie seien nur eine Übergangslösung (wie Aspirin im Falle einer Grippe). Bipolar-Medikamente sind grundsätzlich eine Permament-Hilfe und nur ausnahmsweise eine Übergangslösung.


Und als letztes: Bipolare Störungen sind dem Willen ein großes Stück weit entzogen. Ich kann indirekt Einfluss nehmen, mit Psychotherapie, einem gesunden Lebenswandel und mit medizinischer Therapie (Pharmakotherapie) – aber mich zusammenreißen, das kann ich nur begrenzt. Wenn ich mir den Fuß breche, dann kann ich die Zähne zusammenbeißen und nicht jammern (auch wenn ich das nicht erstrebenswert finde); wenn ich eine bipolare Störung habe, dann kann ich die Zähne auch zusammenbeißen, aber nur solange, wie mich keine ausgeprägte Manie oder Depression erwischt (denn die schalten meine Willensanstrengung einfach aus).

Ein Bipolar-Leben ohne Medikamente ist schwer und verlangt dem Patienten viel ab. Die Leistung, die er täglich bringt, ist keine geringe. Das Gleiche trifft aber genauso auf die meisten Patienten zu, die Medikamente nehmen – auch ihr Leben ist schwer und auch ihre Leistung ist keine geringe. Ich treffe ab und an auf den Gedanken, dass es etwas mit Leistung oder mit Erfolg zu tun habe, ohne Medikamente auszukommen – wer ohne Medikamente lebt, der „schafft das“, der ist bewundernswert. Das ist eigentlich unzutreffend. Wer ohne Medikamente lebt, hat das Glück, dass seine Erkrankung (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) nicht übermächtig ist. Daran hat der Patient womöglich einen Anteil (gesunder Lebenswandel, Psychotherapie), aber es ist nicht sein Verdienst und nicht seine Leistung – sondern sein Glück.

Umgekehrt bedeutet das: Wer Medikamente braucht, hat nicht versagt. Es ist das Wesen von Krankheiten, dass sie die menschlichen Fähigkeiten übersteigen. Wer ohne Medikamente nicht auskommt, hat, in gewisser Weise, großes Pech – aber es ist nicht seine Schuld.

Sicher kann ein Bipolar-Patient, der Medikamente nimmt, auch ein Versager sein, unverantwortlich mit sich umgehen oder nicht um seine Gesundheit kämpfen. Aber die Tatsache, dass er Medikamente nimmt, bedeutet alleine noch gar nichts.

Ich kann mir vorstellen, dass manche Patienten das nicht gerne hören, die sich aus eigener Kraft von Medikamenten freigeschwommen haben – aber es ist dennoch wahr: Das war nicht nur Eure eigene Kraft, das war auch Glück. Ohne Glück, nur aus eigener Leistung geht das nicht – das ist bei bipolaren Störungen nun mal so.

Es wird Zeit, Medikamente nicht zu überschätzen (Allheilmittel), aber auch nicht zu unterschätzen (verzichtbarer Luxus). Und es wird Zeit, denjenigen, die versuchen, Medikamente differenziert zu sehen, nicht mehr vorzuwerfen, sie seien verblendete Pharmako-Jünger. Das ist nicht wahr. Das Gegenteil ist der Fall: Sie versuchen, zu einer vernünftigen, abwägenden Position zu kommen. Zu dieser Position kann auch gehören, Medikamente zu reduzieren oder es vorsichtig ohne Medikamente zu versuchen – und das kann, mit etwas Glück, auch gelingen.

Wer Medikamente dagegen per se verteufelt oder sich Illusionen hingibt, der ist der Verblendete.

Viele Grüße
otacon


PS: Entschuldigt, dass ich heute nicht ganz so strukturiert und verständlich schreibe wie sonst.

-- -- --
organische affektive Störung
Autismus-Spektrum-Störung
Herzerkrankung
Thema Autor Klicks Datum/Zeit

Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Kairo 2679 18. 12. 2010 17:40

Vielleicht Wechsel der Medikamente statt gar keine?

Qwer 884 18. 12. 2010 18:20

Re: Vielleicht Wechsel der Medikamente statt gar keine?

Kairo 625 18. 12. 2010 18:32

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

werner123004 903 18. 12. 2010 18:24

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Kairo 791 18. 12. 2010 18:40

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Mari2008 676 18. 12. 2010 19:28

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Kairo 708 18. 12. 2010 19:46

@ Kairo

Deborah 834 18. 12. 2010 20:00

Re: @ Kairo

Kairo 603 18. 12. 2010 20:17

Re: @ Kairo

Johannes1491 880 18. 12. 2010 20:24

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Mari2008 854 18. 12. 2010 20:27

Krankheitseinsicht - - - an Kairo - - -

Paulina 672 18. 12. 2010 20:30

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Deborah 819 18. 12. 2010 19:32

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 664 18. 12. 2010 19:38

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Kairo 661 18. 12. 2010 22:11

@Kairo

Spiegelneuron 566 20. 12. 2010 20:26

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

TigerBär 753 19. 12. 2010 00:47

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Kairo 896 19. 12. 2010 01:47

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Yeshi 739 19. 12. 2010 09:46

@ Yeshi --warum ich Kairo heiße ?

Kairo 960 19. 12. 2010 14:59

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

psycho9 653 19. 12. 2010 10:27

@ Kairo

Deborah 720 19. 12. 2010 10:51

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Yeshi 1122 20. 12. 2010 08:36

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Kairo 558 20. 12. 2010 09:49

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

mh 626 24. 12. 2010 14:00

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

psycho9 592 29. 12. 2010 02:02

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

zorro 873 25. 12. 2010 14:15

Re: @zorro -- Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Mrs.Dalloway 650 26. 12. 2010 09:44

als ich nach meinem klinikaufenthalt zum psychiater ging, sagte der zu mir....lassen sie mal alle medis weg, ich stelle sie jetzt ein auf litium, das ist ein "geiles zeug"

georg_bln 596 26. 12. 2010 10:06

Warum ist Lithium so gut verträglich?

georg_bln 686 26. 12. 2010 10:42

Re: als ich nach meinem klinikaufenthalt zum psychiater ging, sagte der zu mir....lassen sie mal alle medis weg, ich stelle sie jetzt ein auf litium, das ist ein "geiles zeug"

zorro 642 26. 12. 2010 18:09

du kannst nix mit Li anfangen? @zorro

georg_bln 637 26. 12. 2010 18:24

Re: Lithium - Goldstandard mit Einschränkungen

Johannes1491 607 26. 12. 2010 18:49

Lithium - Goldstandard mit Einschränkungen... Na und?

georg_bln 656 26. 12. 2010 19:08

Re: Lithium - Goldstandard mit Einschränkungen... Na und?

otacon 630 26. 12. 2010 19:21

das 8-eckige weltwunder mit 25 lenzen hihi

georg_bln 640 26. 12. 2010 20:03

Re: das 8-eckige weltwunder mit 25 lenzen hihi

otacon 1293 26. 12. 2010 20:43

Re: das 8-eckige weltwunder mit 25 lenzen hihi

otacon 617 26. 12. 2010 20:58

Re: das 8-eckige weltwunder mit 25 lenzen hihi

otacon 889 26. 12. 2010 21:08

otacon=Dr. Hal Emmerich, auch bekannt als Otacon, ist ein Gründungsmitglied der Gruppe Philanthropy

georg_bln 899 26. 12. 2010 22:46

Re: otacon=Dr. Hal Emmerich, auch bekannt als Otacon, ist ein Gründungsmitglied der Gruppe Philanthropy

Anonymer Teilnehmer 621 26. 12. 2010 22:53

Re: otacon=Dr. Hal Emmerich, auch bekannt als Otacon, ist ein Gründungsmitglied der Gruppe Philanthropy

otacon 731 26. 12. 2010 23:00

Re: otacon=Dr. Hal Emmerich, auch bekannt als Otacon, ist ein Gründungsmitglied der Gruppe Philanthropy

otacon 690 26. 12. 2010 23:04

Re: schorsch

Mrs.Dalloway 1361 27. 12. 2010 11:00

tja... [edit*]:-)...

georg_bln 625 27. 12. 2010 12:15

Re: tja... du [edit *]:-)...

Mrs.Dalloway 616 27. 12. 2010 12:38

tja... du [edit*]:-)...

georg_bln 679 27. 12. 2010 13:01

Lithium - ist selbsttötungsverhindernd und das achteck ist einzigartig:-)

georg_bln 640 26. 12. 2010 23:14

Re: Lithium - ist selbsttötungsverhindernd und das achteck ist einzigartig:-)

otacon 559 26. 12. 2010 23:16

Re: Lithium - Goldstandard mit Einschränkungen... Na und?

Johannes1491 528 26. 12. 2010 23:04

Re: Lithium - Goldstandard mit Einschränkungen... Na und?

otacon 534 26. 12. 2010 23:17

Re: du kannst nix mit Li anfangen? @zorro

zorro 592 04. 01. 2011 00:35

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Lichtblick 518 26. 12. 2010 10:40

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

otacon 1801 26. 12. 2010 10:48

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

otacon 583 26. 12. 2010 11:04

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 623 26. 12. 2010 11:07

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

otacon 478 26. 12. 2010 11:13

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 572 26. 12. 2010 11:23

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

otacon 535 26. 12. 2010 19:38

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 921 26. 12. 2010 22:06

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

otacon 632 26. 12. 2010 22:13

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

von null auf hundert 427 05. 01. 2011 10:43

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 524 05. 01. 2011 11:03

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

von null auf hundert 543 05. 01. 2011 11:49

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 1237 05. 01. 2011 16:17

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten @ johannes

werner123004 506 05. 01. 2011 16:51

Ausschleichen von @ johannes

klotto 464 05. 01. 2011 16:57

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

von null auf hundert 558 05. 01. 2011 16:54

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

Johannes1491 870 05. 01. 2011 17:07

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

ABT 572 05. 01. 2011 11:13

Re: Absetzen und Ausschleichen von Medikamenten

ABT 514 06. 01. 2011 13:08



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