Re: Paaatrick! Komm, lass uns streiten!

Sumosimi
30. 06. 2002 18:28

Lieber Patrick!

> In vielem gebe ich dir auch Zähneknirschend recht, in vielem nicht.

Ich finde, jeder in diesem Forum kann sich ein Beispiel an uns nehmen. Trotz der krassesten Meinungsverschiedenheiten sind wir in aller Gemütsruhe dabei, uns zusammenzuraufen, mit Verständnis und Toleranz. Da lacht mein Herzlein! Das mit dem Zähneknirschen solltest du bleiben lassen, ich knirsche in depressiven Phasen mit den Zähnen, ich kann dir gerne mal einen Gipsabdruck der Ruine schicken. Ein Arrrgh, verdammt, jetzt hat die auch noch recht, Arrrgh! hilft auch.

Ø Nimmst du die Manie in kauf für dich nur um dich "gut" zu fühlen, frei Gedancken zu haben oder weil du der Meinung bist du könntest damit produktiv für dich und deine Arbeit sein?
Wenn ich schreibe, gerate ich in einen Zustand, der für sich gesehen ein Rausch, eine Manie ist. Wenn ich diesen Zustand immer herbeiführen könnte, wie ich will, würde ich keine Drogen mehr nehmen.
In der Manie geht das Schreiben leichter von der Hand, in der Depression habe ich keine Sprache und keine Worte mehr, das ist immer das Quälendste, die Sprachlosigkeit, das Unvermögen, sich mitzuteilen, und wiederum Mitteilungen aufzunehmen.

In der Manie bin ich natürlich am produktivsten.
Da gerät man leicht in Versuchung, um des Schreibens Willen zu schreiben und nicht mehr aufzuhören. Das schadet aber meiner Arbeit nur, man schreibt einen Haufen Mist, den man dann hinterher wieder löschen kann. Deshalb sehe ich immer zu, dass ich in manischen Zuständen andere Dinge tue, die mir Spaß und Freude bereiten, mich einmal vom Schreiben ablenken und vielleicht manchmal ein bisschen meditativ wirken. Ich bastele dann oder male oder setze mich in die Küche und schneide ganz viel Gemüse in winzige Stückchen, um sie dann im Wok zu braten. Mein Mitbewohner liebt es, wenn ich so agil bin und ich kann die Manie erst mal ein bisschen abreagieren, bevor ich mich an den PC setze und unbesonnen einen Blödsinn verfasse.

Dennoch brauche ich, um ins Schreiben reinzukommen, einen leichten Anflug von Manie, den verschaffe ich mir am liebsten, in dem ich gediegen frühstücke und auf zwei Stunden verteilt einen Liter Kaffee in mich reinfülle. Meistens nach der zweiten großen Tasse, spüre ich dann so eine Flattrigkeit, die mir sagt, es sei Zeit, mich an den PC zu begeben. Wenn es dann gut flutscht, schreibe ich mehrere Stunden am Stück, ohne mir das Geschriebene einmal zwischendrin durchzulesen, ohne zu essen, zu rauchen, am Ende steht da immer noch die letzte Tasse kalter Milchkaffee. Ich kann an so einem Tag bis zu 14-15 Seiten schreiben, was wirklich eine Menge ist.
Irgendwann komme ich dann an einen Punkt, an dem ich merke, die Energie reicht nicht mehr, ich werde ungeduldig und fahrig, dann schalte ich den PC ab.
Nach so einem Tag bin ich abends einerseits total erschöpft, andererseits fürchterlich aufgekratzt und immer noch so sehr in meiner Welt, dass ich das Haus verlassen muss. Am Tresen brauch ich dann immer ungefähr eine Stunde, bevor ich überhaupt mit jemandem kommunizieren kann und mich wieder auf die Welt da draußen und ihre Sprache einzustellen und meine Hände ruhig halten zu können.
Es ist so ähnlich, wie früher, wenn man als Kind nach einem langen, heißen Tag im Freibad nach Hause an den Abendbrottisch kam und einen Gang runterschalten musste.
Also, wenn das so läuft, verbringe ich die glücklichsten Zeiten meines Lebens, das ist der Idealzustand. In solchen Zeiten trinke und kiffe ich auch weniger, weil ich am nächsten Tag wieder fit sein und weiterschreiben will.

Wenn ich gut schreibe, dann schreibe ich gut, weil ich Talent habe und eine Vorstellung davon, wie Literatur geschrieben sein sollte. Sein Talent kann man weder durch Drogen noch durch eine Manie mehren, wohl aber verplempern.
Fakt ist jedoch auch, dass Drogen (und wahrscheinlich auch die Manie, denn fast alle Künstler haben zumindest eine Ausprägung der Zyklothymie) den Kreativen als Stimulans dienen können, als etwas, was den Schaffensprozess in Gang setzen, beschleunigen und konzentrieren kann, es geht einem leichter von der Hand und man hat einen besseren Durch- und Überblick. Koks soll genau diesen Effekt haben und genau aus diesem Grund werde ich es nie ausprobieren, ich würde bestimmt drauf hängen bleiben, nur um doppelt soviel zu schreiben. Besser schreiben würde ich aber nicht, Drogen und Manie können Handwerk und Übung nicht ersetzen.
Aber Handwerk und Übung können andererseits Erfahrung nicht ersetzen.

An der Manie sowie an den Drogen schätze ich sehr, dass sie einem die ?Realität? einmal in einem anderen Licht sehen lassen und uns sogar Türen zu anderen Realitäten öffnen. ?Die Pforten der Wahrnehmung? nannte Aldous Huxley das. Ich bin neugierig. Wenn ich weiß, da ist eine Tür, dann will ich diese Tür in aller Regel auch aufmachen und nachsehen, was dahinter ist. Wenn ich die Möglichkeit hätte, für einen Tag schizophren zu sein, würde ich es sofort machen, nur um zu wissen, wie es ist. Natürlich, die Welt bietet uns doch auch allerlei Unglaubliches, was unseren Horizont erweitert, wenn man nach Indien fährt, findet man sich auch in einer anderen Realität wieder. Auch dieser Art der Horizonterweiterung werde ich mich eines Tages zuwenden, wenn ich es mir mal leisten kann.
Es gibt Menschen, die fliegen zum Mars, für mich ist mein Gehirn das Weltall, ich will mich dort auskennen lernen und jeden Winkel gesehen haben. Natürlich bin ich auf diesen Reisen auch mal an Orten gelandet, wo das Wetter beschissen war oder es mir überhaupt gar nicht gefallen hat. Aber wenn ich zurück kam, hat sich vieles hier relativiert und aus einem anderen Blickwinkel betrachten lassen, ich bereue keine einzigen Trip in die Tiefen meines Gehirns. Die Erfahrungen, das Wissen, dass es Realitäten gibt, in denen man sich mindestens so gut zurechtfinden kann wie in der gewohnten Realität, haben mir Selbstsicherheit gegeben, ich bin daran gewachsen und einen Teil meiner Angst vor dem Leben genommen, das hilft mir in der Depression.
Leute, die viel reisen, strahlen oft eine gewisse Gelassenheit aus, für sie hat sich alles relativiert, sie lassen sich nicht mehr so schnell aus der Fasson bringen. Ich werde auch oft gefragt, wie ich es schaffe, so in mir selbst zu ruhen und so gefestigt zu wirken, wo ich doch ein lausiges Bohemeleben führe.
Ich bin auch weit gereist, nur halt in meinem Gehirn. Und irgendwann hab ich gemerkt, in diesem Gehirn gehen Sachen ab, an manchen Orten in meinem Gehirn brennt die Luft und ich kann froh sein, wenn ich da unbeschadet wieder rauskomme. Weshalb dann noch einen Krieg gegen mich selbst führen, wozu? Ich brauche meine Energie, um heil durch dieses Abenteuerland zu kommen, also wird es besser sein, ich schließe Frieden mit mir selbst.
Du sagst, nichts rechtfertigt die Manie. Für dich sicher nicht, für mich schon.

In der Literatur und auch in allen anderen Kunstrichtungen finden sich zahlreiche anerkannte Persönlichkeiten, die ein Alkohol- oder Drogenproblem hatten, bestimmt waren genauso viele nicht ganz knusper. Der Typ, der Sherlock Holmes erfunden hat, war Morphinist und Kokser. Lewis Carroll (Alice im Wunderland) hat mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit Psilos (Magic Mushrooms) gegessen. Wie viele Schriftsteller gesoffen haben, kann man ja gar nicht zählen (Goethe! Drei Liter Wein am Tag!).
Ich kann nicht beurteilen, in welchen Fällen die Drogen nur Stimulans waren und in welchen sie das Werk eines Künstlers weitreichend beeinflussten. Diese Frage ist schwer zu beantworten, es herrscht ja auch immer noch das milde belächelte Klischee von Genie und Wahnsinn.
Tja, wie hätte Van Gogh gemalt, wenn er nicht manisch-depressiv und kein verrufener Absinth-Zecher gewesen wäre? Das wissen wir einfach nicht.
Klar ist aber, dass der Schaffensprozess weder im Vollrausch noch in einer voll erblühten Manie ein vernünftiges Resultat bringen kann. Im Vollrausch kann ich den Pinsel nicht mehr halten, in der Manie ist man von jedem Klecks, den man aufs Papier schmiert begeistert.

Es ist immer schwierig, die eigene Arbeit zu beurteilen, aber mich interessiert es sehr, ob und in welchem Ausmaß und welchen Einfluss die Krankheit auf mein Schreiben nimmt. Da muss ich wohl aber warten, bis sich die Wissenschaftler mit meinem Genie beschäftigen...
Wenn dich das Thema interessiert, kannst du folgendes Buch lesen, das ich auch allen anderen Forumsteilnehmern empfehlen will:
Leo Navratil: manisch-depressiv. Die Psychodynamik von Künstlern.

Für mich war das Buch eine Offenbarung, deshalb folgt jetzt ein kleiner Exkurs:
Leo Navratil hat als Psychiater in der Klinik in Gugging bei Wien gewirkt (übrigens war Ernst Jandl auch einer seiner ambulanten Patienten). Nachdem ihm aufgefallen war, dass sich unter seinen Patienten auch solche finden, die ein literarisches oder künstlerisches Talent haben, hat er untersucht, ob solche Patienten besser klar kommen, wenn man ihnen statt Medikamenten die Möglichkeit gibt, jederzeit künstlerisch tätig zu werden. Er gab den Künstlern unter seinen Patienten ein Haus auf dem Anstaltsgelände, in dem es weniger Medikamente gibt, jeder sein eigenes Zimmer hat und die meiste Zeit tun und lassen kann, was er will, die Türen sind immer offen.
1991 war ich zum ersten Mal in Wien, damals waren die Gugginger Künstler durch Navratils Vorträge und ihre eigenen Ausstellungen schon in der ganzen Welt bekannt geworden. Mein damaliger Kunstlehrer gab mir für meinen Wien_Trip den Tipp, da mal hinzufahren. Es war ein tierisch heißer Tag, ich bin da einfach reingestiefelt und hab Hallo gesagt. Es war die entspannteste Atmosphäre, die ich je in einer Psychiatrie erlebt habe. Ein paar ignorierten mich, jemand kam und zeigte mir das Haus und die Kataloge, als es Mittagessen gab, bat man mich einfach mit zu Tisch. Ich saß neben August Walla, der die größte Schuppenflechte, die ich je gesehen hab auf seinem nackten Oberkörper trug und in Gugging sein ganzes Zimmer schrecklich bunt angemalt hat. Ich hatte einen super Tag in Gugging, zwar war mir anfangs etwas mulmig zumute, aber völlig ohne Grund.

Also, ich versuche eine Art Fazit:
Betrunken schreiben: nein!
In der Manie schreiben: bedingt!
Inspiration, Themen, Ideen aus einem Vollrausch mitnehmen: gelingt in den seltensten Fällen.
Dasselbe mit der Manie: Jaaa! Jajajajaja! Jaaaaa!

Ich hoffe, ich habe deine Fragen damit beantwortet? Bin neidisch auf den Balkon mit den Sonnenrosen. Was sind Sonnenrosen? Ich hab ein Faible für alle möglichen Sonnen, dabei hab ich eine Sonnenallergie. Wie es doch komisch zugehen kann im Leben!

Viele Grüße
Her Majesty
Sumosimi

P.S.: Was sagt denn jetzt deine Ex-Freundin zu unserer Diskussion? Frag die doch mal bitte für mich!
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Patrick 615 28. 06. 2002 08:06

Re: An die community eine Frage.

Lucy 333 28. 06. 2002 08:25

Re: An die community eine Frage.

Patrick 272 28. 06. 2002 10:57

Re: An die community eine Frage.

Sue 261 28. 06. 2002 11:20

Re: An Sue

kobold 312 28. 06. 2002 11:30

Hallo Patrick,

Lucy 218 28. 06. 2002 22:28

Re: Hallo Patrick,

Patrick 241 29. 06. 2002 01:19

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kobold 219 28. 06. 2002 08:49

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kobold 217 28. 06. 2002 09:17

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Patrick 233 28. 06. 2002 10:26

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kobold 209 28. 06. 2002 10:44

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Patrick 212 28. 06. 2002 10:52

Re: Zum letzten Hirsch

kobold 202 28. 06. 2002 11:19

Re: Zum letzten Hirsch

Patrick 203 29. 06. 2002 01:33

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Christine 224 28. 06. 2002 13:41

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Bibi 217 28. 06. 2002 10:25

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Patrick 183 28. 06. 2002 10:46

Paaatrick! Komm, lass uns streiten!

Sumosimi 200 28. 06. 2002 21:46

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Sumosimi 406 29. 06. 2002 01:25

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Patrick 229 29. 06. 2002 01:40

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Sumosimi 180 29. 06. 2002 01:45

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vic 268 29. 06. 2002 16:50

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Patrick 311 29. 06. 2002 14:19

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kobold 223 29. 06. 2002 15:48

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Sumosimi 281 29. 06. 2002 17:13

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Patrick 237 30. 06. 2002 13:48

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Sumosimi 436 30. 06. 2002 18:28

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Patrick 544 01. 07. 2002 10:57

Re: An die community eine Frage.

Matthias 203 28. 06. 2002 12:09

Re: An die community eine Frage.

Patrick 185 28. 06. 2002 12:27

Re: An die community ein Rülps

kobold 236 28. 06. 2002 12:34

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Matthias 267 28. 06. 2002 12:40

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Matthias 270 28. 06. 2002 13:21

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VIC 395 28. 06. 2002 13:31

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Patrick 254 29. 06. 2002 01:30

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Matthias 252 29. 06. 2002 10:38

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Patrick 209 29. 06. 2002 01:21

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kobold 197 29. 06. 2002 13:39

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- 231 29. 06. 2002 16:55

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kobold 213 30. 06. 2002 05:57

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kobold 187 30. 06. 2002 06:23

Re: An die community eine Frage.

kobold 251 01. 07. 2002 09:22



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