Hallo Ute,
falls du noch mitliest, eine Anmerkung zu bipolar und Berufsleben.
Wenn dein Sohn gerne studieren würde, und das auch möglich ist, wenn er Abitur hat, dann hat er ja durchaus ein Interesse, seine Zukunft selbst zu gestalten, auch beruflich. Das ist sicher bei den meisten jungen Menschen der Fall.
Ich war mit 20 in meiner ersten Manie auch überzeugt, dass ich später den Nobelpreis gewinnen würde. Studiert habe tatsächlich, auch wenn ich später eine andere Berufslaufbahn eingeschlagen hatte.
Nungut, ich war auch davon überzeugt ein Rockstar zu sein. (Die anderen hatten das nur noch nicht erkannt. :-D )
Im Ernst, mit 20 weiss heutzutage niemand mehr, wo er beruflich am Ende landet. In der Zeit zwischen 20 und 30 orientieren sich alle jungen Leute erstmal im Leben, viele sind scheinbar ziellos, oder treffen Entscheidungen, die die Eltern unrealistisch oder falsch finden. Das ist das Privileg junger Erwachsener. Sie bestimmen bereits selbst über ihr Leben, machen auch Fehler, lernen daraus (früher oder später) und danach wird es meist deutlich ruhiger und die meisten finden ihren Weg dann doch. Egal wieviele Sorgen die Eltern vorher hatten...
Bipolare können sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas wollen, sie können sogar außergewöhnliche Leistungen erbringen, auch wenn vielleicht nicht durchgehend, und mit 20 ist absolut gar nichts entschieden.
Und das gilt selbst für undiagnostizierte und unbehandelte oder unzureichend behandelte und auch schwere Fälle.
Einer hat sogar den 2. Weltkrieg gewonnen. (Churchill)
Andere den Literaturnobelpreis gewonnen. (z.B. Hemingway)
Zu Zeiten, wo es keine wirklich effektiven Behandlungen gab.
Bei deinem Sohn ist noch alles offen. Da kann man noch gar nichts Langfristiges sagen.
Ob du mal Großmutter wirst, hängt sicher viel, viel mehr von persönlichen Entscheidungen deines Sohnes und seiner Partnerin/nen ab, als direkt von der Erkrankung. Es gibt viele bipolare und schizoaffektive Eltern. Die Zeiten sollten vorbei sein, wo psychisch Kranken das Recht auf Kinder abgesprochen wird, oder die generelle Fähigkeit, gute Eltern sein zu können. Auch wenn es vereinzelt noch solche ewiggestrigen Deppen gibt, die solche Sprüche mal so eben raushauen, leider selbst unter Ärzten.
Wenn die Diagnose "schizoaffektiv" und nicht bipolar lautet, dann solltest du dich trotzdem mal sofort von dem Gedanken verabschieden, dass das heilbar ist. Schizoaffektiv ist vereinfacht gesagt bipolar mit starkem psychotischen Anteil, bei dem die psychotischen Symptome aber nicht in dieselbe Richtung, wie die Stimmung gehen müssen. Also nicht immer "synthym" sind. Ansonsten gilt eigentlich alles, was für bipolare Störungen im Allgemeinen auch gilt. Schizoaffektive Störung muss man sich als Spezialfall der bipolaren Störung vorstellen, bei der man aber teilweise mehr wie bei einer Schizophrenie behandeln muss und z.B. Neuroleptikaeinsatz meist unvermeidlich ist. Daher bekommt es auch einen eigenen Schlüssel in der Codierung der Ärzte nach ICD. Die Abgrenzung ist fliessend und nicht immer eindeutig, die Gemeinsamkeiten stärker, als die eher geringfügigen Unterschiede. Sehr ähnlich und manchmal sogar zeitweise gar nicht unterscheidbar zu Bipolar 1 mit psychotischen Symptomen.
Wenn von "Heilung" oder "Heilungsaussichten" die Rede ist, wie z.B. bei Prof. Dr. med. Volker Faust auf psychosoziale-gesundheit.net, dann ist damit eine weitgehende oder relative Symptomfreiheit gemeint.
Also die Möglichkeit, mit Glück ein weitreichend normales Leben zu führen. Zumindest über weitere Strecken. Wenn eine sehr erfolgreiche Behandlung gelingt. Was aber absolut nicht immer möglich ist.
Die Vorstellung einer Heilung wie bei einem Beinbruch kann man getrost vergessen und sollte man unbedingt so schnell wie möglich aus seinem Kopf bekommen. Dann tust du dir selbst und deinem Sohn einen unschätzbaren Gefallen.
Einmal ausgebrochen wird man nicht wieder "normal" und ist dann geheilt. Eine wirkliche Symptomfreiheit ist nur mit medikamentöser Phasenprophylaxe (lebenslang) erreichbar, und bei weitem auch nicht für jeden. So eine Erkrankung wächst sich nie wieder raus.
Entweder man hat sie, und dann für immer, oder man hat sie eben nicht.
Egal, was auf einigen, meist unseriösen, Seiten im Internet so behauptet wird.
Klingt hart, ist es auch, darum das hohe Suizidrisiko, gerade bei schizoaffektiv und bipolar. (Größer als bei reinen unipolaren Depressionen und auch sonst allen anderen Erkrankungen überhaupt.)
Die letzte, sehr erfolgversprechende und bislang härteste Theorie zur Entstehung bipolarer Störungen ist eine epigenetische, die im absoluten Einklang mit dem bisher verwendeten Vulnerabilitäts-Stress-Modell steht.
Demnach besteht eine komplexe genetische Struktur, die durch eine epigenetische Veränderung, also nach der Geburt, aktiviert wird (und deren Auswirkungen ab dann nach heutigem Wissensstand genauso irreversibel sind, wie man das so im Kopf hat, wenn man an eine genetische Erkrankung denkt). Man kann natürlich auf die fernere Zukunft hoffen, aber man sollte gentechnische Möglichkeiten nicht überschätzen. In diesem Feld der Erkrankungen ist man immer noch bei der Grundlagenforschung mit eher bescheidenen Fortschritten.
(Und glaub mir, als Betroffener wäre ich sofort dabei, wenn eine solche Heilung möglich wäre. Aber realistischerweise rechnet man besser nicht in kleineren Dimensionen als mit einigen Jahrzehnten. Man sollte besser nicht darauf bauen, sondern sich mit den momentanen Gegebenheiten arrangieren, wie auch immer. Ich glaube nicht, dass da noch in meiner Lebensspanne was wirklich Bahnbrechendes passiert, und ich bin noch keine 50.)
Im Bereich der psychischen Erkrankungen haben diese Störungen den stärksten Vererbungsfaktor und somit wohl die biologistischste Form, die psychische Erkrankungen so haben können.
Darum können auch nur die allerleichtesten Formen ohne jeden Medikamenteneinsatz wirklich erfolgreich behandelt werden (Zyklothymia). Bei Schizoaffektiven Störungen ganz sicher nicht.
Ich sage das alles so deutlich und vielleicht entmutigend, um euch und insbesondere deinem Sohn zu helfen.
Aus eigener Erfahrung ist mitunter das Schlimmste für den Betroffenen, wenn Verwandte immer und immer wieder mit noch einem gutgemeinten Vorschlag kommen und von Heilung sprechen. Betroffene haben alle Hände voll zu tun, sich um sich selbst zu kümmern, und Rechtfertigungen für das eigene Kranksein und ewiges Richtigstellen und Erklären und gerade als psychisch Kranker realistischer sein zu müssen, als seine Angehörigen, das ist eine sehr große Mehrbelastung.
Es geht darum, dass dein Sohn ein möglichst weitestgehend selbstbestimmtes Leben führen lernt. Dazu gehört auch, sich von Bevormundung zu befreien, von Vorurteilen anderer abzuschotten, sich soviel zuzutrauen, wie man realistischerweise kann, auch wenn einem keiner vorher sagen kann, wieviel das für einen selbst ist.
Ich bin am Besten damit gefahren, vor allem beruflich und in bezug auf Beziehungen, erst einmal gar nichts unmöglich zu finden, und dann die Einschränkungen im Detail selbst herauszufinden.
Ich habe auch eine Mutter.
Darum weiss ich, dass da die Abgrenzung von den Eltern als betroffener Sohn und das Pochen auf seine Unabhängigkeit und eigene Entscheidungen eine wahrscheinlich lebenslange Aufgabe bleibt...
Und das meine ich durchaus liebevoll. Obwohl ich leider auch die Erfahrung gemacht habe, dass ich den Kontakt zu einem Elternteil für immer abbrechen musste. Leider auch der Erkrankung geschuldet und um meiner eigenen Gesundheit willen.
Aber ich bin guten Mutes, dass meine Mutter immer noch in dieser Beziehung lernfähig ist, und ich bin bereits 48. :-D
Allein die meist überängstliche Frage "Kannst du das denn überhaupt, mit deiner Erkrankung?" kann mehr Selbstbewußtsein zerstören, und Unsicherheiten fördern, die Gift für uns sind, als jede Sorge der Welt je wieder gutmachen kann.
Das Ziel sollte sein, sich als Eltern dem (erwachsenen) Kind gegenüber so normal wie möglich zu verhalten, nur Rat zu geben, wenn er auch gefragt wurde, nichts mit dieser Erkrankung wahrscheinlich Unmögliches oder extrem Belastendes zu verlangen.
Und manchmal sind auch für einen selbst sehr kleine Dinge für den Betroffenen durchaus sehr, sehr belastend.
Z.B. sich erklären zu müssen, warum man nicht auf Familienfeiern mitkommt, wenn man von der Menge der ganzen Leute überfordert wird, man Angst hat,sich daneben zu benehmen, oder unverhältnismäßig, sich zu blamieren, gerade in einer Krankheitsphase zu stecken, oder unfreiwillig mit seiner Diagnose geoutet wurde, oder bemitleidet zu werden etc.etc.pp. ...
Oder die natürlich Aufforderung ablehnen zu müssen z.B. auch die 10.000ste Wunderkur oder das 10.000ste Medikament zu probieren, dass einer Freundin doch so gut geholfen hat, oder wovon man gerade in der Zeitung gelesen hat, oder das in einer ganz tollen Fernsehsendung besprochen wurde oder bei einer ähnlichen Krankheit verwendet wird.
Wenn ich das Thema bestimmter Gesundheitssendungen im Fernsehen im voraus weiss, und es um Depressionen oder auch nur irgendwo ähnliche Erkrankungen geht, dann bereite ich mich gedanklich schon darauf vor, nachher meiner Mutter zu erklären, dass ich z.B. nach Ärztemeinung schon das Beste aus den Möglichkeiten gemacht habe, dass ich nicht gewillt bin, im Moment noch einen Versuch mit einer neuen Medikamentenumstellung zu machen, weil sowas unglaublich anstrengend sein kann, viel Zeit braucht, am Anfang meist eine ganze Palette unangenehmer Nebenwirkungen haben kann und auch hat, und bei Nichterfolg dann sehr frustrierend sein kann, weil alles für die Katz war.
Im schlimmsten Falle kann man sogar nicht mehr zur vorigen Medikation zurück, weil bei manchen Medikamenten die Wirkung nach so einem Absetzen ausbleiben kann. Dann steht man dann ganz schön doof da.
Und was A geholfen hat, ist für B vielleicht völlig indiskutabel, unwirksam oder kommt aus anderen Gründen vielleicht einfach nicht in Frage.
Und schlimm ist auch, immer wieder erklären zu müssen, dass man nicht krank sein will, dass das keine Willensfrage ist, dass das keine kleine Befindlichkeit ist, dass psychische Krankheiten keine Erfindung der Pharmamafia sind, dass esoterische Behandlungen eher gefährlich sind, dass Psychotherapie nur unterstützend hilft, und zwar in erster Linie, um mit den Folgen der Krankheitsphasen klarzukommen und vielleicht Trigger vermeiden zu lernen und Vorwarnzeichen zu erkennen - um rechtzeitig Notfallmedikamente zu nehmen, oder sich in ärztliche Behandlung zu begeben, dass man durch Psychotherapie aber nicht geheilt wird oder wieder "ganz gesund" werden kann, dass das kein Ersatz für Medikamente ist.
Dass man überhaupt jedes Recht der Welt hat, Behandlungen, und zwar egal welche, abzulehnen, ob man krank ist, oder nicht. Das das ein Menschenrecht ist, genauso, wie man einen Krebskranken niemals dazu zwingen würde, gegen seinen Willen eine Chemotherapie zu machen.
Und dass niemand auf Dauer so betroffen und beeinträchtigt ist, wie der Betroffene selbst, der im Gegensatz zu den Gesunden um sich herum als Einziger ganz, ganz sicher und alternativlos bis zum Tod mit dieser Erkrankung unmittelbar zu tun haben wird.
Und dass der Betroffene auch sehr, sehr langfristig denken muss, was Medikamente angeht, weil er nämlich die Neben- und Langzeitwirkungen hat, und kein Anderer, weil im Normalfall seine Leber oder Niere oder Schilddrüse irgendwann den Geist aufgibt, und nicht die der anderen, weil im schlimmsten Fallen er aus dem Fenster springt, wenn mit dem Medikament oder der Therapie was wirklich schief läuft.
Und dass weil keine Therapie länger als einen Schritt vor die Tür der Klinik oder Arztpraxis funktionieren kann, wenn der Betroffene sie eigentlich ablehnt.
Und dass man die Diagnose auf gar keinen Fall überall erzählen sollte, wenn man irgendwann noch einmal ins Arbeitsleben will, weil nach wie vor alle psychischen Krankheiten stark stigmatisiert sind, gerade im Berufsleben, weil man im Ernstfall immer dem Psycho die schuld gibt, weil man als psychisch Kranker im Berufsleben immer doppelt kritisch beäugt wird, weil ein Outing meist unwiderruflich ist.
Weil ein Outing schon sehr viele Berufskarrieren verhindert oder beendet hat. Weil nur wenige mit einem offenen Umgang in nur bestimmten Berufen nur ganz vielleicht besser dran sind, wenn da jemand bescheid weiss. Weil man ganz sicher immer anders behandelt werden wird, als die Anderen, ob man will oder nicht.
Weil man im Zweifelsfalle derjenige ist, dem man bei Aussage gegen Aussage nicht glauben wird.
Und wenn ich jetzt all diese schlimmen Situationen aus der Sicht eines Betroffenen bewußt so negativ formuliert habe, wie sie wirklich wirken können, dann mache ich das vor allem, damit man die Schlimmsten Fehler als Angehöriger eben vermeiden kann, damit man sich ein kleines bisschen besser in die Realität eines Betroffenen reinfühlen kann.
Dazu möchte ich anmerken, dass ich bei der Diagnose schon 39 war und ziemlich gefestigt, mit normalem, anspruchsvollem Job und jahrzehntelanger fester Beziehung, obwohl ich schon fast 20 Jahre unbehandelt bipolar war, inklusive Manien und Psychosen sowohl in Manien, wie Depressionen, im Schnitt 2-4 Phasen im Jahr, wie ein Uhrwerk, ohne nennenswerte Pausen dazwischen.
Und dass ich allein in den 9 Jahren seitdem so ziemlich viele Sachen, die ich oben angeführt habe, am eigenen Leib irgendwie erfahren habe, rechtfertigen musste, etc.etc.pp., obwohl ich ja eigentlich längst bewiesen hatte, dass ich sogar ohne Behandlung, Ärzte und kluge Ratschläge irgendwie durchs Leben gekommen bin und relativ viel für mich erreicht hatte.
Dann stelle ich mir immer vor, wie das wohl für einen jungen Menschen ist, der das noch viele Male öfter mitmachen muss, erklären muss, klarstellen muss, Angst haben muss (z.B. vor Jobverlust, möglicherweise Klinikeinweisungen gegen den Willen, Diskriminierung/Mobbing/Ausgrenzung/Stigmatisierung), der besser daran tut, sich nur sehr wenigen Leuten anzuvertrauen, um nicht vielleicht lebenslang Nachteile zu haben.
Und das in einem Lebensjahrzehnt, wo man jedem gesunden jungen Mann doch noch alterstechnisch sehr milde seine "Wilderen Zeiten", lebenslustiges Feiern mit Freunden, ausprobieren, unsteten Lebenswandel und ein paar Eskapaden auch noch ein paar Eskapaden mehr, sowie das ganz normale Lernen aus Fehlern nachsieht,...
... während die eigene Familie dem jungen Bipolaren ständig mit der Lupe auf die Finger guckt, ob er vielleicht schon wieder krank ist, ob er unvernünftig ist, ob er falsche Entscheidungen fällt, ob man eingreifen muss, ob man ggf. Zwangsmaßnahmen gegen ihn einleitet, egal ob begründet oder unbegründet, natürlich nur mit den besten Absichten, ob man ihm manchmal "zu seinem eigenen Besten" Unterstützung welcher Art auch immer entzieht, die man einem gesunden Kind z.B. gewähren würde. Aus eigentlich nur einem Grund - weil er anders ist und akut krank werden *könnte*.....
Ich finde, es ist halt angebracht, mögliche Probleme und Konfliktpotenziale zwischen Angehörigen und Betroffenen aufzuzeigen, gerade in der Vorweihnachtszeit, der Zeit des Stresses, der anstehenden Familienfeiern, der Zeit, wo es so früh dunkel wird und kalt, wo Leute mehr grübeln, wo man sich an frühere Zeiten erinnert (wo der Kleine doch noch so klein, brav und gesund war...), wo die Welt doch noch so in Ordnung war, wo man froh sein soll, besinnlich und sich um die Familie kümmern, während man an Weihnachtsmärkten vorbei nach der Arbeit herumhetzt, zwischen Geschenkewahnsinn und Weihnachtsfeiern mit Glühweinbesäufnis, und eigentlich für die Meisten so gar nichts ruhig und besinnlich ist......
Auf dass man das Meiste vom Obengesagte vermeidet. Oder es zumindest für sich selbst zu vermeiden versucht.
In diesem Sinne,
eine versöhnliche, entspannte, konfliktarme, empathische, vernünftige und nicht zu emotionale, verständnisvolle (Vor-)Weihnachtszeit und viel Gesundheit Euch allen,
M.
(48 männlich, betroffen und angehörig)