Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Sumosimi
03. 07. 2002 23:20
Good evening, Julie!
Ich will mal versuchen, dir zu antworten.
Ich kenne das Gefühl, wenn sich das Studium so hinzieht, sehr gut, obwohl mein letztes Studium sozusagen eine Punktlandung war (ich wollte immer Schrifststellerin sein und habe das dann auch studieren können). Deshalb liegt für mich der Verdacht nahe, dass es mit MD zusammenhängen kann, wenn man es irgendwie doch nicht so auf die Reihe kriegt, wie man es sich erhofft hat.
Ich bin schon lange MD, nehme aber keine Medikamente. ich hatte bisher keine heftige Manie, sondern lange Depresionen, Hypomanien und im schlimmsten Fall sich beschleunigende Wechsel (bis zu Stunde von Stunde).
Ich muss zugeben, dass ich mein Studium teilweise auch versoffen habe, als Folge oder Begleiterscheinung oder als Behandlung von MD, das kann ich gar nicht sagen.
So, das alles nur als Voraussetzung.
Ich hatte während meines Studiums nie ein Problem, etwas geschriebenes abzuliefern, meine Shortstories hatte ich immer als erste fertig. Mein Problem war, dass ich es nie geschafft habe, mich vernünftig auf Seminare vorzubereiten, selbst wenn sie mich interessierten. Es wollte mir einfach nie gelingen, mich länger als zehn Seiten auf einen Text zu konzentrieren, geschweige denn, etwas davon in mich aufzunehmen und zu verarbeiten. Meine mündliche Mitarbeit hing natürlich davon ab, wie stark meine Kommunikationsschwierigkeiten gerade waren - an manischen Tagen hab ich lieber den Mund gehalten und mich im Stillen über die Humorlosigkeit und Einfalt der anderen amüsiert, in der Depression ließ ich den Kopf hängen und hoffte, dass es schnell vorbeigeht. Ich hab mich immer gewundert, wie die anderen es schaffen, das ganze Zeug zu lesen und zu behalten und wie sie es schafften, das Gelernte im Kopf so in Ordnung zu halten. Mir fiel immer alles auf einmal oder gar nichts ein.
Meine Kommilitonen verehrten mich oder konnten einfach nichts mit mir anfangen. Wenn ich einen Tag lang die glänzende Entertainerin in den Pausen gegeben hatte, waren sie am nächsten Tag vor den Kopf gestoßen, wenn ich ihnen nicht sagen konnte, weshalb ich so traurig kucke.
Ich hielt das damals für natürlich, ich hatte mich daran jahrelang gewöhnt. Letztes Jahr hab ich dann völlig überstürzt das Diplom hingelegt, als ich feststellte, dass ich als Studentin keine Sozialhilfe bekomme. Mit den Prüfungsvorbereitungen war ich völlig überfordert, die Prüfungen verliefen desaströs (zum Glück kommt's bei mir auf die Note nun wirklich nicht an, mein Dilom-Roman hat auch einiges gerettet). Ich hatte neun Semester lang einfach nicht mitbekommen, was ungefähr erwartet wird, es war mir auch zu peinlich, damit zu den Profs zu gehen - hatten sie mich doch die ganze Zeit so desinteressiert und dreiviertel der Zeit mit Wodkafahne, ein paar wenige Male sogar noch besoffen vom Abend vorher erlebt.
Im Sommer letzten Jahres wurden meine Probleme dann so akut, dass ich zum Arzt gegangen bin, der mir Carbamazepin verschrieb, das ich aber nach ein paar Wochen wieder abgesetzt habe, seitdem geht es mir, abgesehen von einer mittleren Depression im Winter (die einen konkreten Auslöser hatte) ziemlich gut. Ich habe wieder angefangen zu lesen, habe eine Zeitlang einen stinknormalen 36-Stunden-Job bei einer Zeitschrift gemacht und habe fest gestellt, dass ich in der Lage bin, mich in Themen zu vertiefen und das auch über einen längeren Zeitraum, nicht nur für ein paar Tage wie in der (Hypo)Manie.

Ich halte nichts davon, MD als Erklärung für alles mögliche herzunehmen, was schiefläuft und ich weiß auch, dass in meinem Fall der Wodka mindestens eine Hälfte der Verantwortung für meine üble Studiererei trägt. Jedoch war der Psychiater, den ich letztes Jahr konsultierte, der Meinung, das sei unbewusste Selbstmedikation und Phasenprophylaxe gewesen.
Rückblickend ist mir im letzten dreiviertel Jahr klargeworden, dass MD auf jeden Fall in alle Bereiche des Lebens reinspielt und einem den Kopf so beharrlich besetzt, dass kaum noch Platz für was anderes ist - kein Wunder, wenn man jeden Morgen aufwacht und erst einmal checken muss, wie es einem geht. Ich dachte immer, ich sei faul, arbeitsscheu, desinteressiert, lebensuntüchtig und hätte kein Durchhaltevermögen. Heute weiß ich, dass das alles gar nicht stimmt, ich hab auch Defizite, aber alles in einem stinknormalen Rahmen.
Übrigens hab ich es auch 'geschafft', während meines gesamten Studiums kein einziges Mal die Bibliothek aufzusuchen. Wenn ich depressiv war, war ich zu ängstlich, wenn ich manisch war, war einer der letzten Orte, an denen ich sein wollte, eine Bücherei. Genau so war es mit der Jobsuche. Sich etwas für den nächsten Tag vorzunehmen und es in die Tat umzusetzen war anstrengend (ohne Listen schon gar nicht) bis unmöglich.

Das sind meine Überlegungen dazu, ich hoffe, sie bringen dir was.
Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man so lange Lithium nimmt, besetzt einem MD trotzdem so den Kopf?

Gruß
Her Majesty
Sumosimi
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Alltag eines manisch depressiven Menschen

Julie 722 03. 07. 2002 21:45

Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Sumosimi 305 03. 07. 2002 23:20

Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Alex 250 03. 07. 2002 23:43

Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Sue 280 04. 07. 2002 11:48

Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Alex 220 04. 07. 2002 12:05

Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Sue 271 04. 07. 2002 12:00

Re: Alltag eines manisch depressiven Menschen

Warrior 266 06. 07. 2002 00:38



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