Re: EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter

28. 12. 2020 22:56
Hallo ÖsiRene,

danke für die Rückmeldung. Nun zu deinen Fragen:

1. Wie kommt man zur richtigen Mixtur aus Abstand und Nähe?

Während der Qualifizierung zur/m Genesungsbegleiter/in wird in den Modulen viel reflektiert. Dabei bist du mit mindestens 14 aber manchmal auch mit 20 anderen Mitstreitern zusammen, die nicht nur verschiedene Diagnosen haben, sondern auch verschiedene Lebensläufe und Erfahrungen gemacht haben, die du dort hörst.

In Diesem einen Jahr wirst du dich also nicht nur mit dir selbst auseinander setzen sondern auch mit den verschiedenen anderen Charakteren, Biografien und Erfahrungen. Wenn du dich darauf einlassen kannst, dann lernst du schon dort, dich einerseits mit deiner eigenen Geschichte ggf. zu versöhnen, so dass du später in der Lage bist von Dir selbst absehen zu können, und andererseits das Zuhören und Mitgehen und übst, dich darin nicht zu verlieren. In dem Jahr werden evtl. Tränen fließen, aber das ist Okay und du wirst schon dort die Möglichkeit haben, zu trennen, zwischen deiner eigenen Geschichte und die der Anderen.

Also eine professionelle Nähe ohne emotional zu nahe zu sein.

Es ist ein Jahr mit zwei Praktika wo du dich selbst testen kannst, ob das etwas für dich ist und ob es Dir schon dort immer besser gelingen wird.

Aber in der Praxis gibt es natürlich auch Situationen, wo es mir schwer fällt, Nahe zu sein ohne aber gleichzeitig "angefasst" zu sein. Mir helfen dort die Supervisionen für Genesungsbegleitung, Kollegialer Austausch im Team, Rat von anderen GenesungsbegleiterInnen.

Und manchmal ist es auch sinnvoll für mich, eine Begleitung entweder dann in Tandem zu machen oder aber ganz abzugeben. Das ist nicht schlimm, denn das passiert auch unter den anderen FachkollegInnen, dass es notwenig wird zu wechseln. Es ist für Beide Seiten dann gut, wichtig ist nur die Ehrlichkeit dabei.

2. Wie kann ich Schaden verhindern?

Um "Schaden" von sich selbst abzuwenden ist die eigene Selbstfürsorge wichtig. Auch da hilft das eine Jahr, seine eigenen Selbstfürsorgestrategien zu überprüfen und ggf. zu ergänzen. Durch die Arbeit mit dem Portfoliio, welches du in dem einen Jahr erstellst, wirst du nochmals deine Qualitäten unter die Lupe nehmen und dir bewusst machen, was du kannst, aber genauso gut, wo deine Grenzen sind und wo du ggf. auch Hilfe benötigst.

Während der Arbeit ist Austausch sehr wichtig, mit anderen GenesungsbegleiterInnen, mit KollegInnen und das Nutzen der Möglichkeiten, die der Arbeitgeber zur Verfügung stellt, um für sich zu sorgen.

Um "Schaden" bei den Hilfesuchenden abzuwenden, sollte man sich bewusst sein, was über seine Kompetenz hinaus geht und das lieber Anderen überlassen. Aber auch mit den KollegInnen über seine Ideen, Anliegen oder auch kritische Betrachtungen reden.

Wenn ich eine Idee habe, etwas mit jemandem auszuprobieren, informiere ich auch die Bezugsbetreuung darüber, da ich bei der Arbeit in einem Wohnheim mit Menschen zu tun habe, die häufig schwerere Verläufe haben und Traumata dahinterliegen können. Ich bin also im Team eingebunden.

Bei Suizidalität oder Fremdgefährdung ist für uns als GenesungsbegleiterInnen klar, dass wir unverzüglich Hilfe dazu holen und das auch so den Hilfesuchenden kommunizieren.

Aber es gibt auch Genesungsbegleitung/Peerberatung die eher eigenständig und eigenverantwortlich arbeiten, in einer Beratungsstelle oder als eigenständiges Angebot in einer Klinik. Ich weiß aber, dass die Meisten dann in Peer-Teams arbeiten und dort sollte man sich ebenfalls gut miteinander austauschen und ggf. auch in Tandem-Teams arbeiten.

3. Warst Du eine Pionierin? Wenn ja, wie hast Du/Ihr das geschafft?

Es haben schon vor mir einige als Peers oder GenesungsbegleiterInnen gearbeitet, doch auch heute noch sind viele noch als Pioniere tätig, auch die jetzt abschließen oder in ein oder zwei Jahren. Auch wenn die Institution zunächst mit offenen Armen empfängt, ist es für viele Neuland und sie wissen nicht, wie sie uns einordnen sollen, geschweige denn, was sie uns "zumuten" oder auch "zutrauen" können.

Man braucht schon einiges an Mut und Durchhaltevermögen, um nicht bei den ersten Schwierigkeiten irritiert und zerknittert das Handtuch zu werfen. Manchmal muss man sich auch "Durchbeißen", was nicht heißt, dass ich nur meine Perspektive sehen und mit dem Kopf durch die Wand gehen sollte.

Mir hilft immer auch die Perspektive meiner KollegInnen, meiner Teamleitung und der Geschäftsleitung zu sehen, um zu verstehen, warum manchmal so und nicht anders reagiert wird. Dennoch bringe ich meine Anliegen vor bestimmt, aber möglichst dennoch in diplomatischer Weise, um "miteinander" nach Lösungen zu suchen und nicht "gegeneinander" zu arbeiten.

Ergänzung: Ich finde es aber ebenso wichtig, sich selbst immer wieder zu refektieren, sich selbst und seine Denke über einen Umstand in Frage zu stellen. Auch wir haben die Wahrheit oder das richtige "Handeln" nicht gepachtet.

Veränderungen brauchen auch Zeit.

Und was mir persönlich auch geholfen hat, meine frühere berufliche Erfahrung, die auf einem ganz anderen Gebiet war, aber dennoch eben KollegInnen, Chefs, Kundenkontakte beinhalteten und manch eine auch schwierige Situation bewältigt werden musste.

In einigen Städten haben sich auch EX-IN- und/oder Genesungsbegleiter-Vereine gegründet. Auch sie helfen dabei, sich gegenseitig auszutauschen und zu unterstützen und eben nicht alleine zu sein, gerade mit der Rollenfindung.

Ich hoffe, ich konnte dir die Fragen zu deiner Zufriedenheit beantworten.

Viele Grüße Heike

------------------ Signatur --------------------------

Ich bin ein Mensch mit vielen Farben und Facetten zeitweise unterbrochen durch unipolar depressiven Phasen, im MD-Forum schon seit 2002 vertreten.

"Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ›geheilt‹ oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können" (Patricia Deegan 1996).



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 28.12.20 23:07.
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EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter

ÖsiRene 1038 28. 12. 2020 19:07

Re: EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter

Heike 325 28. 12. 2020 20:19

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Re: EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter

Heike 304 29. 12. 2020 00:56

Re: EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter - Ergänzung

Heike 277 29. 12. 2020 01:18

Anmerkung zur Offenheit

Heike 322 29. 12. 2020 11:51

Re: Anmerkung zur Offenheit

ÖsiRene 228 01. 01. 2021 23:36

Re: EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter

Friday 289 31. 12. 2020 14:05

Re: EX-IN/Peer/Genesungsbegleiter

ÖsiRene 454 03. 01. 2021 07:35



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