Ah, vorsichtig. Diagnosen will keiner hören, der denkt, er sei normal, vor allem nicht von jemandem, der selber schon eine Diagnose hat. Ich halte mich damit auch zurück, obwohl das gar nicht meine Art ist und ich jedem ganz schnell ne Diagnose verpasse und wenn sie auch nur lautet: Stock im Arsch.
Und das Ärgernis dann, wenn sie tatsächlich die Diagnose annehmen sollten und man dann zusehen muss, wie wider besseren Wissens alle Fehler gemacht werden, die man machen kann.
Aktuelles Beispiel: vom Kollegen die Frau ist zum dritten Mal dieses Jahr depressiv. Ob sie suizidal ist, weiss ich nicht. In unserem kleinen Kollegenkreis sind sage und schreibe drei Leute bipolar, inklusive meiner einer.
Denkst du, er fragt uns mal um Rat? Nein, natürlich nicht. Warum nicht? Sicher, weil wir ja selber einen an der Waffel haben.
Da wird erstmal alles mögliche von Aromabad über Kräutertee bis Tarotkartenlegen versucht. War sie denn schon beim Arzt, fragte ich und dann hiess es, sie würde eine Therapie bei einem Psychologen machen wollen, aber da wartet man ja so lange auf einen Termin. Seitdem ist das Thema tabu, bis auf "ich kann heute nicht arbeiten, meiner Frau geht's nicht gut" hört man nichts mehr. Ich weiss, dass sich bei allen anderen ausgeweint wird, nur wir Experten werden nicht mehr gefragt, weil wir sagen: "Bring sie in die Klinik." Das ist aber nicht die erwünschte Antwort. Erwünscht wäre sowas wie: Dann fahrt doch mal schön zusammen an die Ostsee, damit sie den Kopf frei kriegt. Wir sagen aber: sie gehört in die Klinik, sie braucht Medikamente.
Nein, heisst es dann, da sind ja nur Verrückte, da wird sie mit Pillen ruhiggestellt, da kann sie nicht gesund werden. Gedacht wird: nur weil ihr Pillen nehmen müsst, heisst das ja noch lange nicht, dass meine Frau auch welche nehmen muss, so schlimm ist es nämlich bei uns nicht...
Und so lebt man weiter mehr oder weniger fröhlich in den Tag hinein, säuft, kifft, kokst bis zum nächsten Zusammenbruch und dann soll wieder die ganze Welt still stehen. Wieder und wieder und wieder.
Fakt ist aber: wir Psychoexperten haben alle drei einiges an Überstunden, wir sind immer pünktlich, wir jammern nie auch wenn die Arbeit uns mal ankotzt, sie muss eben gemacht werden.
Der Kollege aber hat Minusstunden, weil seine Frau keine Pillen nimmt und er deswegen häufig fehlt oder gar nicht kommt. Der Chef wird das auch nicht mehr lange mitmachen.
Ich würde dem Kollegen gerne sagen, dass ich auch längst durchgedreht wäre, weil er entweder ADHS hat oder zuviele Drogen durch die Nase gezogen hat oder beides; und er fast bei jedem Satz, den er äußert, am Ende nicht mehr weiss, was er eigentlich sagen wollte, als er den Satz anfing zu sprechen. Er ist andauernd am Meckern, wegen nichts, führt Selbstgespräche, stellt sinnlose Fragen und meckert weiter. Mich nervt das schon bei der Arbeit extrem, dass ich mich sehr zusammenreissen muss, nicht dysphorisch zu werden. Ich will mir nicht vorstellen, wie seine Frau das nervt.
Ich hab soviel Psychos um mich rum, die keinen Schimmer haben, dass sie sehr wohl behandlungsbedürftig sind. Aber ich kann das nicht beurteilen, schließlich bin ich selber verrückt. Nun gut, wenn sie meinen. Ab und zu rechne ich den Kollegen auch vor, dass acht halbe Liter Bier so gut sind wie ein halber Liter Schnaps. Und wenn man das jeden Tag zu sich nimmt, dann hat man ein Problem. "Ach komm", sagen sie dann, das könne man ja nicht vergleichen... Und auch da ist es so: ich hab selber mal gesoffen, ich weiss, was es bedeutet, ich weiss, was von was kommt und wie lange das gut geht und ab wann nicht mehr. "Bei dir war das vielleicht anders", sagen sie dann. Ich seh es regelmäßig, wie sie sich hinrichten, ich seh den kalten Schweiss und das Zittern während der Frühschicht. Und ich seh auch, dass sie längst denken, jeder fühle sich so nach dem Aufstehen, weil sie den Unterschied gar nicht mehr kennen. Ich weiss, dass das nicht nur Gaudi ist, wenn man einen umgekippten Schnaps vom Tresen aufleckt.
Aber sollen sie machen. Irgendwann wissen sie, ich hatte Recht.
Für die, die meinen, sie könnten Scherze über meine Krankheit machen, hab ich mir im Laufe der Jahre genug zurechtgelegt. Schlagfertigkeit ist Vorbereitung. Seltsamerweise macht aber keiner mehr Scherze. Oder ich überhöre sie gelangweilt.
Es sei denn, jemand macht mal einen richtig guten Scherz, dann freu ich mich. Weil es bedeutet, er hat sich damit auseinandergesetzt.
Man kann auch einfach sagen: darüber macht man keine Scherze, dazu ist es zu ernst.
Sumosimi
Taat du nee borom djogol, so djoge mu topola.
