Hallo Humpel,
vielleicht interessiert dich dieser Beitrag hierzu etwas.
Ist leider etwas länger und nicht zum überfliegen geeignet ;-)
Landschaft im Aufruhr (die innere Landschaft)
[Auszug aus dem Lehrbuch „Irren ist menschlich“]
Wir befinden uns manisch meist in der Lebensphase Anfang des dritten Lebensjahrzehnts. An der Pupertät und Nach-Pupertät, der zugleich großartigsten und schrecklichsten Zeit des Leben, sind wir nicht gescheitert: an der Phase, in der man die Grundsatzfrage aufwirft, jeder Gedanke die Welt in Frage stellt, jedes Gefühl die Existenz bedroht, jede Moral radikal ist, wir uns zwischen uns und der Welt aufzuteilen haben. Das haben wir hinter uns – ohne daran schizophren geworden zu sein. Damit sind grundsätzlich die Positionen zwischen uns, den Eltern, Geschwistern und Fremden so weit klar, dass wir uns sicher fühlen, in die Welt der Erwachsenen aufzubrechen – privat, beruflich, politisch. Dort aber sind alle Positionen von Autoritäten besetzt. Wir müssen sie erobern. Das können wir nur mit der Optik, dass die Erwachsenen-Autoritäten kleinkariert, verknöchert und korrupt sind. Wir durchschauen sie. Wir können und wollen die Welt neu schaffen, großzügiger und fröhlicher, lebendiger, demokratischer und partnerschaftlicher, gerechter und lebenswerter, freier, gleicher und brüderlicher. Das geht nur, indem wir die Autoritäten überzeugen oder besiegen, indem wir zeigen, dass man anders besser leben kann, indem wir vorbildlich alternativ leben, heiterer, menschlicher, natürlicher, auch die Natur achten, notfalls Wut, Zorn und Gewalt dazu einsetzen. Wenn die Erwachsenen ihr überlegenes Gewaltarsenal dagegen ins Feld führen, umso besser: es ist der beste Beweis unserer moralischen Überlegenheit, auch wenn wir dabei umkommen. Das ist die Welt der immer wieder anderen Jugendbewegung, des Wandervogels, der antiautoritären Bewegung, der Ostermarschierer, der Hippies, Rocker und Punker, der Grufties, der Hausbesetzer, der ökologischen und der Friedensbewegung, der Skins – die Landschaft der permanenten gewaltlosen und gewaltsamen Provokation, mit der wir uns selbst und die Anderen aufbrechen
Da niemand dabei in sich sicher und alles ein ständiges Experimentieren ist, macht das Aufbrechen Angst. Doch eher würde man sich die Zunge abbeißen, als diese Angst und diesen (heimlichen) Schmerz des Besserwissens den Eltern und ihren gesellschaftlichen Ersatzautoritäten zu zeigen, während man versucht, sie zu entlarven, lächerlich zu machen, auszutricksen, zum Weinen zu bringen, zu besiegen, um zur Überlegenheit der eigenen Welt und Person zu kommen. Auch hier ist das Spiel nicht nur das des Jugendlichen oder Jung-Erwachsenen, sondern zugleich auch das der Eltern und anderen Autoritäten: auch sie glauben, ihre Angst nicht zeigen zu dürfen, fürchten, Zugeben einer Schwäche führe zum Chaos. Dabei würde – früh genug - das Zeigen der Angst, ein Signal, dass auch Eltern schwach sind, das Nachgeben beim Wertemonopol freilich bei unerbittlicher Verteidigung der eigenen letzten Werte, die den Erwachsenen bei dieser Gelegenheit meist erst klar werden, ein paar gemeinsam vergossene Tränen aus Verzweiflung darüber, dass man sich nicht mehr verstehen kann – etwas von alledem würde schon genügen, um aus dem gegenseitigen Vernichtungskampf eine Begegnung von Gegnern zu machen, die von wechselseitigem Respekt lebt. Nur so käme die Begegnung auf ein erwachsenes Niveau des dauerhaften, gegenseitig befruchtenden Austauschs.
Das ist die Landschaft, in der ein Jung-Erwachsener den notwendigen und auch von ganzem Herzen gewünschten Aufbruch zugleich nicht riskiert, brav ist, wo er nicht brav sein will, und beide Seiten Angst und Verunsicherung nicht zeigen, sondern abwehren. Verlierer ist dabei vor allem der biografisch Jüngere. Er erstickt an seinem Unabhängigkeitswunsch, für den er nichts zu tun riskiert, was ihn innerlich traurig und verzweifelt macht. Aber da er auch das überspielt und die Unterdrückung der Angst und des Unabhängigkeitswunsches diesen immer dranghafter und übertriebener macht, kommt es irgendwann zur Explosion: Er wird manisch. Im Schutz dieses „unzurechnungsfähigen Zustandes“ kann er endlich seine Gefühle äußern und jedem seine Meinung ins Gesicht schreien, alles niedermachen. Manche kommen leichter auf diesen gefährlichen Weg, nachdem sie längere Zeit Alkohol, Medikamente oder Drogen genommen haben, was die Abwehrkontrollen lockert und die Fiktion einer Befreiung erzeugt. Manche kommen erst dann auf diesen Weg, wenn sie zu früh geheiratet haben, wobei der biographisch „ältere“, also unabhängigere Partner, die Rolle des Verantwortlichen in diesem Autoritätskonflikt übernimmt oder sich in diese Rolle hineindrängen lässt, ohne es früh genug zu merken. Für das weitere Leben gilt auch hier: Wer einen Ausweg einmal gelernt hat, wird ihn später schon bei geringeren Anlässen leicht wieder benutzen.
Selten bekommt jemand erst im 70. Lebensjahr seine erste Manie. Das erinnert daran, dass keine unserer Lebensphasen je ganz abgeschlossen ist. Am leichtesten aber werden wir manisch in dem Alter, in dem wir den Umgang mit Autoritäten zu lernen haben.
Zur Abrundung des manischen Landschaftsbildes noch ein Gedanke: Jedes Manisch-Sein kann auch mit schizophrenen Symptomen, vor allem Stimmen und Wahnideen einhergehen. Vielleicht waren also die alten Psychiater nicht so dumm, wenn sie die manischen und fast alle schizophrenen Störungen gemeinsam unter dem Begriff „Manie“ sahen. Beide Wege sind verwandt und typische Notbremsen bei der jugendphasischen Lebensaufgabe, des ( sich und Andere ) Teilens, Lösens, Fügens und Aufbrechens. Nur: Wer manisch wird, hat ein paar Grundsatzprobleme der Existenz schon gelöst und sich bereits ein Stück weit auf die realen Lebensprobleme des Ewachsenendaseins einlassen können, steht schon im Bruch mit der Tradition, dabei allerdings Angst machend statt in Angst lebend.
(Autoren: Klaus Dörner, Ursula Plog, Christine Teller)
Gruß
Windoo
[Autoren ergänzt. Die Admins]
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 21.09.08 21:00.