Guten Morgen Milla,

ich dankbar, dass Du beschreibst, wie es mir manchmal so ergeht. In der Vergangenheit war es noch schlimmer. Ich war neulich
auf einem Bauernhof und da war ein Ziegenbock. Ich fragte die Besitzerin, ob ich die Ziege streicheln dürfe und sie sagte, klar
dürfen sie, sie können sie auch gerne füttern mit dem hohen Gras vor ihr. Sie hat zwar ihr eigenes Gras, will aber immer das wo
sie nicht ran kommt.

Genauso bin ich auch. Bedingt durch die Erkrankung, habe ich Minderwertigkeitskomplexe. Momentan nicht, aber gerade wenn
ich in der Depression stecke und mich wie die ärmste S.. fühle und nicht schlafen kann, weil die destruktiven Gedanken kreisen.

Ich bin sehr froh, dass ich aus meiner Heimatstadt weggezogen bin. Alles steht auf Neuanfang, aber natürlich nehme ich mich mit,
auch hier immer die gleichen langweiligen Fragen. Was arbeitest Du? Als würde der Wert meiner Person nur davon abhängen,
was ich arbeite, was für ein Auto ich fahre und ob ich ein Haus habe und als letztes am besten noch, wo die Kinder studieren.

Kaum Platz für Individualität und eben auch Krankheiten. Ich persönlich mag ja lieber Menschen mit Ecken und Kanten. Interessante
Lebensgeschichten. Mut zur Veränderung.

Ich bin in die gleiche Falle getappt. Ich fühlte mich oft unwohl, wenn vermeintlich oder auch wirklich alles perfekt schien. Dann
hatte ich Groll oder war zerrissen vor Neid. Ich war gestern bei unseren neuen Nachbarn auf der anderen Straßenseite. Perfekter
Garten, perfektes Haus, der Sohn hat einen guten Job. Als sie fragte, ob wir einen Kaffee wollen, hat mein Partner nett verneint
und ich war froh darüber. Warum auch immer, ich habe mich nicht wohl dort gefühlt.

Mein verstorbener Freund Dieter hat immer gesagt, kein Dach ohne Ach. Ich lebe heute ziemlich frei. Keine
hohe Miete, keinen Hund, keine oberflächlichen Menschen, eine Schwerbehinderung, die ich akzeptiert habe, keine Marken-
kleidung, früher unvorstellbar und keinen Job zur Zeit. Früher lebte ich mehr im außen. Auto, Klamotten, Urlaub, exclusives
Fitnessstudio und ich presste meinen Sohn auf das Gymnasium, damit aus ihm etwas wird.

Es gab Zeiten, in denen ich nicht mehr leben wollte. Jeder wollte etwas von mir. Ich fühlte mich wie ein Arbeitspferd. Eltern, Jobcenter,
Sohn, Exmann, DRV jeder wollte mich zur Arbeit zwingen und ich lag ausgeknockt am Boden, depressiv und war froh, wenn ich mir die Zähne putzen konnte.

Ich konnte den Erwartungen nicht gerecht werden und mußte erst so krank werden um auszusteigen. Eigenartigerweise bin ich
heute mit weniger Geld glücklicher, als mit teilweise vielem Geld.

Ich nehme mich heute so an, wie ich bin. Ich steige aus, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Ich habe mir Sonntag auf dem Bauern-
hof mit besagter Ziege ein gebrauchtes Fahrrad gekauft und bin glücklich nach Hause geradelt. Es hat geregnet und über 1 Std.
gedauert, aber es hat sich gelohnt.

Lieben Gruß

Turicum