Wie verläßlich sind psychiatrische Diagnosen?

18. 01. 2004 09:28
Zur Reliabilität (Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Versuche) der klassischen psychiatrischen Diagnosen und Validität (Gültigkeit) habe ich im Lehrbuch der Verhaltenstherapie von Jürgen Margref , Springer Verlag 1996, auf S. 96 f. folgenden Abschnitt und interessanten Bericht über den »Leer«, »Hohl« und »Plop«-Versuch von Rosenhan (1973) gefunden:

? Mangelnde Reliabilität der klassischen psychiatrischen Diagnosen

Lange Zeit war die psychiatrische Diagnostik sehr unzuverlässig. Spitzer & Wilson (1975) rechneten die Angaben zur Interraterreliabilität (d. h. zum Ausmaß der Übereinstimmung zwischen zwei unabhängigen Diagnostikern) in Kappa-Koeffizienten um und erhielten folgendes Ergebnis für die damals vorliegenden Studien:

Störungsklasse Anzahl Studien Mittlere
Reliabilität

Schizophrenie 8 0,54
Neurotische Depression 5 0,21
Psychotische Depression 1 0,19
Persönlichkeitsstörungen 7 0,29
Neurosen 7 0,36
Alkoholismus 4 0,71

Sieht man vom Alkoholismus ab, bei dem in der Regel externe klare Hinweise auf die Diagnose vorliegen, so war es tatsächlich häufiger der Fall, dass zwei Diagnostiker bei derselben Patientin zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, als daß sie übereinstimmten. Natürlich sind solche Studien mit einer Vielzahl methodischer Probleme konfrontiert. Aber auch bei anerkannten Experten aus der gleichen Einrichtung waren die Ergebnisse alles andere als befriedigend. An einer klassischen Studie von Beck et al. [und anderen] (1962) nahmen vier erfahrene Psychiater aus einer Einrichtung teil. Bei einer zufällig ausgewählten Stichprobe von 153 neu überwiesenen Patienten erzielten sie eine Übereinstimmung von nur 54% (Kappa-Koeffizienten [mittlere Zuverlässigkeit] konnten noch nicht berechnet werden)!

Validität [Gültigkeit]

Die mangelnde Reliabilität führte zu massiven negativen Konsequenzen in Wissenschaft und Praxis. So kamen etwa epidemiologische Studien aufgrund des Fehlens klarer und verläßlicher diagnostischer Kriterien zu extrem divergierenden Ergebnissen hinsichtlich der Prävalenz [Anzahl der Erkrankungsfälle] psychischer Störungen. Die Schätzungen schwankten von ca. 3-5% bis zu 70% psychiatrischer Morbidität in der Allgemeinbevölkerung (vgl. Regier et al., 1985). Praktisch bedeutsam ist, dass auch Entscheidungen über Behandlungen auf dieser unzuverlässigen Basis getroffen wurden. Dabei bietet selbst eine hohe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Diagnostikern keinen hinreichenden Schutz vor Fehlentscheidungen. Einen besonders dramatischen Ausblick auf die unsichere Basis damaliger psychiatrischer Entscheidungen eröffnete die mittlerweile klassische »Rosenhan-Studie«, in der immerhin eine nahezu perfekte Übereinstimmung der Diagnosen festgestellt wurde (siehe folgenden Kasten).

»Leer«, »hohl« und »plop«:
Ein Fall für die Psychiatrie?

Reliabilität [Zuverlässigkeit] bewirkt nicht automatisch Validität [Gültigkeit].
Rosenhan (1973) ließ 12 freiwillige Versuchspersonen ohne jegliche psychische Störungen in verschiedene psychiatrische Kliniken einweisen. Bei der Aufnahme sollten die Pseudopatienten lediglich ein Symptom berichten, ansonsten jedoch völlig zutreffende Angaben über sich und ihre Lebensumstände machen. Als Symptom wählte der Autor ein Verhalten aus, das noch nie in der Fachliteratur beschrieben worden war: Die Versuchspersonen sollten angeben, sie hörten Stimmen, die in (in deutscher Übersetzung) »leer«, »hohl« und »plop« sagten. Unmittelbar nach der Aufnahme berichteten die »Patienten« nicht mehr von diesem Symptom und verhielten sich auch ansonsten völlig normal. Trotzdem wurden alle Patienten als psychotisch diagnostiziert (elfmal als schizophren, einmal als manisch-depressiv). Es lag also ein außerordentlich hohes Ausmaß an diagnostischer Übereinstimmung vor. Dennoch waren alle Diagnosen falsch, sie besaßen keine Validität. Darüber hinaus erwiesen sich die Klassifikationen als sehr stabil. Einmal gestellt, war die Diagnose kaum wieder abzuschütteln. So hieß es bei der Entlassung der »Patienten« in der Regel nicht etwa, es habe doch keine Störung vorgelegen, die typische Diagnose lautete vielmehr »Schizophrenie in Remission [im Abklingen]«. Es ist leicht vorstellbar, dass diese Studie zu einer scharfen Debatte nicht nur über den Wert der Diagnostik, sondern auch über die Art der Untersuchung führte (einige der wichtigsten Stellungnahmen können im Band 84 der Zeitschrift »Journal of Abnormal Psychology«, Jahrgang 1975, nachgelesen werden.?

Liebe Forumsteilnehmer,

hat sich nach Euren Erfahrungen nach der Einführung des ICD-10 und des DSM IV etwas an der erschreckend hohen Rate von Fehldiagnosen geändert bzw. verbessert?

Ich persönlich habe im Verlauf meiner Krankheitsgeschichte 3 Fehldiagnosen erhalten, bis nach 5 Jahren quälender Hochs und Tiefs ein wohl sehr guter Diagnostiker nach nur 2 kurzen Gesprächen die zutreffende Diagnose ?manisch-depressiv? und lebenslänglich ?Lithium? stellte. Nach Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen dauert es im Durchschnitt 8 Jahre, bis bei manisch-depressiv Erkrankten die richtige Diagnose gestellt wird.

Irren ist menschlich. Auch in der Wissenschaft, vor allen bei Forschungsvorhaben wie dem des Kompetenznetzes Schizophrenie. Es kann einem angst und bange werden, wenn man an die erschreckend hohe Anzahl von Fehldiagnosen denkt.

Ist es auch Euch so ergangen, dass Fehldiagnosen gestellt wurden, bis ihr die richtige Diagnose und Behandlung erhalten habt?
Thema Autor Klicks Datum/Zeit

Wie verläßlich sind psychiatrische Diagnosen?

moody 888 18. 01. 2004 09:28

Re: Wie verläßlich sind psychiatrische Diagnosen?

CreativeChaos 205 18. 01. 2004 09:55

Re: Wie verläßlich sind psychiatrische Diagnosen?

Jörg 127 18. 01. 2004 21:01

Re: Wie verläßlich sind psychiatrische Diagnosen?

Nup 150 18. 01. 2004 21:26

Re: Wie verläßlich sind psychiatrische Diagnosen?

Jörg 172 18. 01. 2004 21:54



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