Hilferuf einer Angehörigen

14. 09. 2024 14:48
Hallo zusammen,
ich bin neu im Forum und habe das Bedürfnis mir meinen Kummer von der Seele zu schreiben und um vielleicht Leute zu treffen, denen es ähnlich geht.
Ich habe meinen Partner vor 8 Jahren kennen- und lieben gelernt. Ich war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt und er 21 Jahre alt. Bereits während unserer ersten Dates erzählte er mir von seiner bipolaren Erkrankung. Bis dato hatte ich keine Berührungspunkte mit psychischen Erkrankungen, also habe ich recherchiert und war – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – der Überzeugung, dass ich das Krankheitsbild verstanden habe. Ein Irrtum wie ich heute weiß. Er war medikamentös eingestellt und wir haben auch ausführlich über vergangene Episoden (überwiegend depressive Episoden und eine manische Episode) gesprochen. Auch nahm er psychotherapeutische Hilfe in Anspruch.
Letztlich sind wir eine Beziehung eingegangen. Wir standen beide am Anfang unserer Karriere und unterstützen uns gegenseitig in Ausbildung und Studium. Wir zogen nach zwei Jahren zusammen, machten viele Urlaube und Aktivitäten und gründeten eine gemeinsame Band mit Freunden (er spielt Schlagzeug und ich singe) Jedoch konnte ich über die Jahre den Alkoholkonsum meines Partners beobachten, welcher zunehmend schlimmer wurde. Zuletzt trank er täglich mehrere Flaschen Bier und wenn er trank, dann bis zur Besinnungslosigkeit. Wir haben mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre darüber gestritten, dass ich mir Sorgen mache um sein Trinkverhalten – vor allem in Kombination mit seiner Medikation. Es war ein auf und ab. Immer wieder gab es Phasen der Abstinenz, dann wieder Phasen des Konsums. Zuletzt hatte sich die Thematik so zugespitzt, dass er versuchte mir den Alkoholkonsum zu verheimlichen und vorrangig trank, wenn er Schlagzeugspielen war. Dies führte dazu, dass er häufig betrunken Auto fuhr, um nach Hause zu kommen. Aufgrund von Sorge bin ich irgendwann dazu übergangenen ihn anzurufen, bevor er nach Hause kam. Wenn ich feststellte, dass er betrunken war, habe ich ihn abgeholt.
Während einer abstinenten Phase im Jahr 2019 fing er plötzlich mit Glücksspielen im Form vom Online-Casino an. Ich habe mir zunächst nichts dabei gedacht, bis ich etwa 12 Monate in einem Streit rausfinden musste, dass er bereits drei Mal sein komplettes Gehalt verzockt hatte und seine Familie ihn finanziell immer wieder auffing. Ich war enttäuscht und entsetzt, dass sowohl seine Familie als auch er mir dies 12 Monate verschwiegen hatte. Ich forderte ihn auf eine Suchtberatungsstelle aufzusuchen, wenn er weiterhin in der Beziehung bleiben wolle. Er erkannte dies an und suchte sodann regelmäßig eine Suchtberatungsstelle auf, welche sowohl die Alkoholproblematik als auch die Spielproblematik mit ihm analysierte. Gespielt hat er seitdem nicht mehr. Alkohol trinkt er inzwischen seit 1 ½ Jahren nicht mehr.
Während der vergangenen 8 Jahren gab es immer wieder leicht depressive Phasen, die wir jedoch gemeinsam bewältigt haben. Ansonsten schien unser Leben mit Ausnahme der oben genannten Problematiken völlig „normal“.
Vor zwei Jahren kam es zu unserer ersten Trennung. Die Corona-Zeit setzte unserer Beziehung stark zu. Seine Familie und ich waren an sehr unterschiedlichen Standpunkten was diese Zeit anging, was wiederrum dazu führte, dass er zwischen den Stühlen saß. Nachdem jedoch meine Gesundheit durch die Familie gefährdet wurde und er es nicht schaffte für mich Partei zu ergreifen, entflammte ein riesiger Streit zwischen uns, der sich über Wochen zuspitzte, sodass ich schweren Herzens die Reißleine ziehen musste. Er zog aus, lebte zunächst bei seinen Eltern – bis diese ihn in Folge seines Alkoholkonsums rausschmissen – dann in einem Hotel, bevor er eine eigene Wohnung fand. Trotz Trennung standen wir weiterhin im Kontakt und führten unser gemeinsames Hobby, unsere Band, weiter. Es war eine Zeit, die durch sehr viel Sehnsucht, Schmerz und gleichzeitig Liebe gekennzeichnet war. Was soll ich sagen? – Nach etwa 6 Monaten fanden wir wieder zueinander. Wir haben die Trennung die Probleme gemeinsam reflektiert und aufgearbeitet und wollten es erneut miteinander versuchen. Er zog zwar nicht offiziell bei mir ein, lebte aber jeden Tag bei mir. Seine Wohnung zu kündigen erschien uns überstützt, also blieb sie zunächst. Die nachfolgende Zeit war frei von jeglichen Episoden. Etwa im November 2023 fing es jedoch an, dass er deutlich müder wurde und die Medikamente ihm den Alltag erschwerten. Nach Einnahme konnte man sichtlich beobachten, wie ihn die Medikamente ins Aus schossen. Sein damaliger Psychiater wollte jedoch weiterhin nichts an der Medikation ändern. Im Januar 2024 wechselte er dann auf Rat seines Psychotherapeuten den Psychiater. Dort entschied man schnell, dass die Medikation zu hoch angesetzt war. Man nahm ihm direkt das Quetiapin (zuvor 600mg täglich) weg, was jedoch dazu führte, dass er eine Woche gar nicht mehr schlafen konnte. Um dies zu beheben, sollte er abends wieder 100 mg Quetiapin zu sich nehmen. Dies schien ihm deutlich besser zu tun. Er klagte zwar vereinzelt noch über körperliche Symptome (Verdauungsprobleme etc.), aber psychisch ging es ihm deutlich besser. Es war als würde er wieder zu dem Mann, den ich vor 8 Jahren kennengelernt habe. Unsere Beziehung erschien tiefer denn je. Er beteiligte sich wieder mehr an Gesprächen, konnte wieder über Gefühle sprechen etc. Wir planten zu Heiraten und Kinder zu bekommen. Er kündigte seine Wohnung zu September 2024. Etwa drei Monate später wurde weiterhin an der Medikation geschraubt: Er sollte statt 375mg Venaflaxin noch 175 mg nehmen. Dazu nahm er noch 100 mg Lithium und 100 mg Quetiapin. Was soll ich sagen? – Mit dieser Änderung begann unsere, zumindest meine, persönliche Hölle. Die kommenden Wochen waren von einem emotionalen Auf uns Ab geprägt. In der einen Stunde war er im Verhalten völlig drüber, redete ununterbrochen, schwankte in den Themen und wurde über Kleinigkeiten aggressiv. In der nächsten Stunde war er so niedergeschlagen, dass er sich hinlegte, gleichzeitig aber nicht schlafen konnte. Die körperlichen Symptome wurden auch nur schlimmer, sodass er zweimal zur psychiatrischen Notfallambulanz, wo seine Psychiaterin angegliedert ist, hinfuhr und förmlich um Hilfe rief. Beide Male wurde er mit der Antwort „Das sind ganz normale Entzugserscheinungen“ nach Hause geschickt. Ich fragte ihn mehrfach, wie es ihm mit dieser Antwort gehe und ob wir andere Schritte gehen sollte. Er war der Überzeugung, dass er sich auf die Ärzte verlassen wolle.
Vor acht Wochen standen wir vor einem freien Wochenende, auf das wir uns beide freuten. Jedoch kam es nicht dazu. Nachdem er Feierabend hatte rief er an und wir klärten noch organisatorische Dinge. Als er dann nach Hause kam, wirkte er völlig verändert. Sehr wütend und distanziert. Er trennte sich von mir und verließ unsere Wohnung. Die Trennung kam für mich total überraschend und auch seine Argumente („Ich kann dir nicht das geben, was du brauchst“, „Ich habe keine Gefühle mehr für dich“) widersprachen sich zum Teil und erschienen mir in Anbetracht der vergangenen Wochen, welche total schön war, wenig glaubwürdig. Aber ich ließ ihn gehen. Es gab zwei weitere Gespräche, welche zunehmend verwirrender wurden. Auch er wirkte im ganzen Auftreten sehr verändert. Eine Woche nach der Trennung durften seine Freunde und ich auf Social Media verfolgen, dass er eine neue Freundin hat, welche aus dem anderen Ende von Deutschland stammt und laut seinen Aussagen an Borderline erkrankt ist. Inzwischen betitelt er die Dame auch als seine zukünftige Frau. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen bzw. habe ich das alles nicht verstanden.
Während der vergangenen Wochen war ich damit beschäftigt mich mit dem Krankheitsbild noch mehr auseinanderzusetzen (Selbsthilfegruppe für Angehörige und Betroffene, Fachliteratur, Gespräche mit Fachleuten etc.). Ich habe meine Sorgen mit seinen Eltern geteilt, seinen Psychotherapeuten informiert und alle Freunde versucht zu sensibilisieren, weil auch hier verhält er sich aktuell sehr fordernd und aggressiv. Ich war mir von Anfang an sicher, dass seine derzeitige Situation krankheitsbedingt ist. Also habe ich versucht den Scherbenhaufen in seiner Abwesenheit so klein wie möglich zu halten. Gleichzeitig stehe ich an der Seitenlinie und muss mit ansehen, wie er sein Leben vor die Wand fährt (er hat sich von allen Freunden zurückgezogen, hat die Band verlassen, geht nicht mehr arbeiten, hat alle Medikamente abgesetzt, hat über seine finanziellen Mittel gelebt etc.). Es tut weh dabei nur zusehen zu können. Gleichwohl scheine ich in den vergangenen Wochen zum Feindbild für ihn geworden zu sein. Er verhält sich als wäre acht Jahre lang ich der Feind gewesen, der ihm etwas Schlechtes wollte und jetzt könne er „endlich“ sein Leben leben. Er meldet sich alle paar Wochen, um Geld oder Dinge zu fordern, die ihm angeblich zustehen. Wenn ich ihn darauf hinweise, dass ihm Dinge beispielsweise nicht zustehen, wird er zunehmend aggressiv, sodass er zuletzt anfing meine Familie und mich zu bedrohen, wenn ich seinen Forderungen nicht nachkomme. Jetzt muss ich ihm noch Konzerttickets aushändigen, die er mir eigentlich geschenkt hatte, da ich aber zwischenzeitig auch Angst vor ihm bekommen, habe ich beschlossen ihm diese zurückzugeben. Allerdings habe ich darauf bestanden, dass er die nicht abholt und ich die zu seiner Familie bringe. Nach einem ewigen Hin und Her mit Provokationen und Bedrohungen hat er sich darauf eingelassen, dass ich die Sachen zu seinen Eltern bringe, forderte aber gleichzeitig, dass ich mit diesen kein Wort reden darf, da es bereits in der Vergangenheit übergriffig gewesen sei mit diesen zu sprechen. Er wolle seine Eltern entsprechend informieren und das tat er auch. Ich habe seine Mutter kontaktiert, um eine Übergabe abzusprechen, bin aber darauf hingewiesen worden, dass ich die Sachen einfach in den Garten stellen sollte.
Ich muss gestehen, ich hatte mir schon erhofft, meine Sorgen nochmals mit seinen Eltern teilen zu können. Auch von denen jetzt abgewiesen zu werden, hat mehr weh getan, als ich zugeben möchte. Ich fühle mich einfach seit Wochen hilflos und alleine. Ich weiß, dass er sich in einer krankheitsbedingten Episode befindet, allerdings ist es für mich jeden Tag Realität: Ich sehe meinem geliebten Partner dabei zu, wie er sein Leben vor die Wand fährt und kann nichts tun. Gleichzeitig versuche ich mein Leben weiterzuleben und die Trennung zu verarbeiten und anzunehmen. Meine Freunde und Familie sagen mir seit Wochen, dass ich so schnell laufen soll, wie ich nur kann und mir dieser Mensch nicht guttut. Aktuell ist das auch so. Sein Verhalten der letzten Wochen hat mich gebrochen, aber ich weiß, dass das was er da tut, noch wenig mit ihm zu tun hat. Ich weiß, dass ich die Krankheit nicht von ihm abkapseln kann, aber er verhält sich so persönlichkeitsfremd, dass es mir Angst macht.
Mein Alltag ist geprägt von Zerrissenheit: Ich weiß, dass das was er aktuell tut nichts mit mir persönlich zu tun hat und durch die Krankheit gesteuert wird. Für mich ist es allerdings pure Realität und das Gefühlschaos hört einfach nicht auf. Also warte ich, dass diese Episode abebbt. Es fühlt sich an als ob unser gesamter Freundeskreis und ich nur darauf warten, dass dieses Kartenhaus zusammenbricht…
Bitte entschuldigt diese ewig lange Nachricht. Ich hoffe es ist verständlich geworden, wie sich meine derzeitige Situation darstellt. Ich frage mich, ob es Angehörige gibt, die ähnlichen Erfahrungen gemacht haben? Ich habe selbst schon viel im Forum gelesen und hatte jetzt aber das Bedürfnis meine Geschichte mit hinzuzufügen. Für einen Erfahrungsaustausch wäre ich euch sehr dankbar.
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Jessi115 706 14. 09. 2024 14:48

Re: Hilferuf einer Angehörigen

Friday 243 14. 09. 2024 16:48

Re: Hilferuf einer Angehörigen

Jessi115 207 14. 09. 2024 22:29

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Friday 197 15. 09. 2024 14:15

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Jessi115 106 17. 09. 2024 16:12

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Grashalm 191 15. 09. 2024 15:02

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Jessi115 106 17. 09. 2024 16:14

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Ver-rückt 186 15. 09. 2024 17:42

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fahni 164 16. 09. 2024 17:20

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Jessi115 200 17. 09. 2024 16:16

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Jessi115 135 17. 09. 2024 16:15



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