Liebe Johanna,
ich kenne dieses Gefühl, nicht nach links oder rechts blicken zu wollen; Abgründe sind tief und manche Gedanken haben Flügel, die einen an Orte tragen, die die Realität in einem neuen Licht erscheinen lassen. Meist kann man nicht sagen ob sie wahr sind, sicher ist immer nur, man ist alleine dort.
Ich bin diagnostiziert mit Bipolar Typ 2, ultra-rapid-cycling. In meinem Leben geht gerade alles darunter und drüber. Situationen erscheinen ausweglos, alle Optionen nahezu ausgeschöpft, alle Sympathien verspielt. Es könnte noch schlimmer kommen und vielleicht wird es das, aber das klingt erstmals wirklich nach Trost für mich, denn trotz allem - ich bin weder hypomanisch noch depressiv.
Vielleicht wäre es normal etwas schlecht gestimmt zu sein angesichts allem, aber es ist schon so viel passiert, dass es mich nicht mehr erschüttert. Ich habe keine Phasenumschwünge erlebt eine ganze Weile. Ich stehe vor einem Scherbenhaufen, meinem Leben, das ich immer wieder langsam kumulativ mit jeder Depression ein Stück weit mehr zerstört und in einer oft medikamentös induzierten/verlängerten hypomanischen Phase wieder halbwegs gekittet habe. Ich weiß nicht mit Gewissheit, warum es nicht mehr passiert. Ich habe viele konventionelle und unkonventionelle Dinge probiert, vielleicht hat eines davon letztlich funktioniert. Ich habe allerdings nie über mehrere Jahre Medikamente eingenommen.
Vielleicht bin ich in der Mitte, oder doch schon am Ende, schwer zu sagen. Ich versuche nicht weiter zu blicken, als die Hoffnung reicht. Ich meine gute Dinge können noch passieren. Wenn du eine Minute "in der Mitte" sein kannst, schaffst du vielleicht eine Stunde. Als nächstes peilst du einen Tag an - vielleicht einen netten Ausflug in die Natur - und irgendwann weißt du, dass schlimme Dinge passieren werden, ganz egal wie du sie fühlst. Du versuchst einfach dein bestes zu tun und manchmal reicht es. In der Mitte sein heißt für mich Akzeptanz/Demut ohne dadurch passiv zu werden. Solange dich noch ein paar Sonnenstrahlen erreichen, kannst du wie eine Pflanze zu ihnen wachsen.