Re: Thomas Melle

26. 10. 2021 11:31
Ich habe das Buch letztes Jahr gelesen und habe in meiner im selben Jahr sich ereignenden Hypomanie zwar durchaus auch destruktives Verhalten an den Tag gelegt - Sauftouren, die ich eigentlich für viele Jahre hinter mir gelassen hatte. Frage mich aber immer wieder, ob meine Zustände nicht mit dem vergleichbar sein müssten, was solche Dokumente darlegen und wovon ich auch hier im Forum immer mal lese.
Ich habe nichts verkauft oder verloren. Ich habe gesoffen, ich bin betrunken auf der Straße gestürzt, ich hatte eine Platzwunde, ich war kurz per RTW in der Notaufnahme. Ich habe mich dann zwar in die Psychiatrie überweisen lassen, bin dort aber nur 4 h geblieben, weil ich das Gefühl hatte dort falsch zu sein. Ich bin dann ein paar Wochen später noch mal dort hin. Und habe den geschützten Raum eigentlich nur genutzt, um mal diese Sauferei endlich wieder sein lassen zu können.
Ich war zuvor noch nie in der Psychiatrie.
Bin ich also hauptsächlich ein Säufer oder ein Bipolarer?
Warum bin ich hier im Forum?
Warum habe ich seit meinem 20. Lebensjahr einen Psychiater?
Warum nehme ich seit 22 Jahren Carbamazepin?

Ich lese in den letzten Monaten viel auf den Seiten der sogenannten Antipsychiatrie, der Sozialpsychiatrie:
https://www.madinamerica.com/2020/06/brain-scan-results-lead-wildly-different-conclusions/
https://www.behaviorismandmentalhealth.com/2009/09/06/bipolar-disorder-is-not-an-illness

Und ich habe das eigentlich nicht bewusst gesucht. Ich hatte von meiner Psychiaterin den Auftrag bekommen, mich über alternative Medikamente zu informieren, weil ich angemerkt hatte, dass meine Medikation mich letztes Jahr nicht geschützt hat. Und bei dieser Recherche stolperte ich irgendwann über eine ARTE-Reportage, die mich zu Namen wie Peter Gøtzsche, Joanna Moncrieff, David Healy und Roger Whitaker führte. Ich suchte weiter und lese seitdem viel.
Es hat mich alles sehr nachdenklich über mich und meine Diagnose gemacht.

Die wurde 1987 einem 22-Jährigen verpasst, der nach einem äußerst turbulenten Wochenende auf Sylt mit Saufen und Kiffen und seltsamen Leuten recht angefeuert in seinem Elternhaus auftauchte und dort für Verwirrung sorgte. Da der junge Mann sich vor einem halben Jahr einen gebrauchten Luxuswagen gekauft hatte, war die Überweisung des Dorfarztes "Verdacht auf manisch-depressives Syndrom" vermutlich angebracht. Ich konnte damit wenig anfangen und ging, wie mir geraten, zum Psychiater, um zu zu erfahren, was das nun heißen sollte.
Und der erklärte es mir. Wir hatten 8 viertelstündliche Gespräche miteinander und zum Ende dieser Termine schlug er mir eine lebenslange Lithium-Therapie vor. Ich lehnte diese ab. Bis zu meinem 30. Lebensjahr sei ich ein Fall für die Sozialhilfe, prognostizierte mir der Doktor. Und so kam es tatsächlich.
Bis zu meinem 34. Lebensjahr hatte ich dann aber doch endlich eine Berufsausbildung, eine Ehefrau, ein erstes Kind und den Job, den ich heute noch mache. Und da suchte ich diesen Psychiater von damals wieder auf. Wieso das denn? Kleinmütig willigte ich in die Lithium-Therapie ein. Ich unternahm nämlich trotz Beruf, Frau und Kind immer noch gelegentliche Sauftouren. Und da ich selbst einen "funktionierenden Alkoholiker" als Vater gehabt hatte, wollte ich das meinem Kind nicht zumuten. Da diese alte Diagnose immer noch an mir hing, kam es mir logisch vor, diesen Arzt wieder aufzusuchen. Er sagte dann, es gäbe jetzt ja etwas anderes als Lithium, das zugegeben nicht unbedingt für jeden passe: Carbamazepin, ein Antiepileptikum. Ich begann also meine Therapie mit Carbamazepin.

Erst bei meinen aktuellen Recherchen über mögliche Alternativen lernte ich, dass Carbamazepin auch zur Unterdrückung von Entzugssymptomen bei Alkoholikern eingesetzt wird. Originell, dachte ich, denn ich hatte damals einfach stumpf aufgehört zu trinken. Und das war auch überhaupt kein Problem. Was aber ist nun überhaupt ein Problem? Nun, ich werde den Verdacht nicht los, dass ich damals leichtfertig und eventuell falsch diagnostiziert worden bin. Und da ich das nie in Frage gestellt habe - auch nicht während der 14 Jahr ohne Medikation - hat es der erste Psychiater auch nicht in Frage gestellt. Der erste, der sich wunderte, war mein zweiter Psychiater. No. 1 war verstorben. No. 2 fand, dass meine Biografie zu glatt für einen Bipolaren sei. Nun, sagte ich, ich nehme ja auch schon viele Jahre Carbamazepin. No. 2 verließ leider die Stadt, bevor wir mich und meine Karnkehit ganz aufgeklärt hatten. Ich giong zu Psychiaterin No. 3, die auch heute noch meine Ärztin ist.
Was ich heute im Rückblick auf mein Leben denke, ist dies: Ja, ich war ungebärdig, als ich erwachsen wurde. Ich wollte meinen Eltern zeigen, dass sie mich mal können - Luxuskarre gekauft, mit dem Geld der Ausbildungsversicherung, das gerade zur Auszahlung gekommen war, plus einer Nachzahlung vom Arbeitsamt für mein erstes halbes Jahr Arbeitslosigkeit. Ich meinte damals, ausprobieren zu wollen, wie cool "arbeitslos" ist. Das hat sich aber, bis auf's Geld, als ungeeignet für mich erwiesen. Mir waren also binnen weniger Wochen 12.000,- DM zugefallen - für nichts. Und ich fing, nach einer sehr unauffälligen Kindheit und Jugend, an rebellisch zu werden. Klar war das unreif und doof. Aber war das bipolar? Dann das wilde Wochenende auf der Goldsandinsel. Zu Hause diese ungünstige Konstellation. Eine Art Nervenzusammenbruch meinerseits, wegen einer schlechten Nachricht von einer jungen schönen Frau, in die ich verliebt war. Meine Eltern konnten das alles nicht so schnell verstehen, meine Erlebnisse bei den Schönen und Reichen und diese Nachricht. Warum schreit der Junge? Tja, that was it.
Dorf-Doc -> Psych No.1 -> die Mühle fing an zu mahlen.
Ich sage nicht, dass ich damals keine depressiven Phasen hatte. Ich sage nicht, dass ich kein Problem mit dem Erwachsenwerden hatte. Ich habe dann sogar bald ein eigenes Alkoholproblem entwickelt. Das ist alles richtig. Aber war das bipolar?
Hätte ich womöglich damals so etwas Al-Anon, eine Angehörigengruppe für Familienmitglieder und somit auch Kinder von Alkoholikern gefunden, wäre manches vielleicht anders gelaufen. Aber das habe ich nicht.
Als mein Vater trocken wurde, war ich schon mitten in meiner eigenen Suchtkarriere angekommen. Meine Eltern deckelten all meine Scheitereien in diversen Versuchen zu Studieren und diversen Jobs. Immer, wenn ich fiel, fingen sie mich finanziell wieder auf. Ich musste eigentlich gar nicht ernsthaft versuchen Erfolg zu haben. Ihr schlechtes Gewissen ermöglichte mir viele hedonistische Jahre. Mein Hausarzt, der diese Jahre begleitete, nannte das mal "prolongierte Adoleszenzschwierigkeiten". Und schrieb mich immer wieder krank, wenn ich es mal brauchte. Ich hatte ihm natürlich von meiner Geschichte mit 22 mit dem ersten Psychiater erzählt. das beschäftigte mich im Hintergrund natürlich weiterhin. Aber bis kurz vor meinem Kniefall vor "König Alkohol" befand er es nicht für nötig, mich zu diesem zurück zu schicken. Und erst, als dieser treue Helfer mich im Stich ließ und mir eine AU nur mitsamt Überweisung in die Suchtklinik gab, verließ ich ihn. Immer noch nicht bereit, das Knie zu beugen, suchte ich mir einen neuen "Doc Holiday". Erst Kind No. 1 brachte mich dazu. Aber irgendwie ging ich dann nicht in eine Suchtberatung, sondern zurück zu Psych No. 1. Der Rest ist oben erzählt.
So, das ist meine kleine Geschichte namens "Rücken zur Wand".

Gruß B.

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Bipolar, Typ II, geb. 1965,
aktuelle Med.: seit Herbst 2021 ohne Medikation
früher Carbamazepin und zeitweise Quetiapin
Thema Autor Klicks Datum/Zeit

Thomas Melle

kain 1413 26. 10. 2021 09:07

Re: Thomas Melle

Bohumil 410 26. 10. 2021 11:31

Re: Thomas Melle

Milla 293 26. 10. 2021 12:19

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Bohumil 294 26. 10. 2021 13:27

Re: Thomas Melle

Milla 255 26. 10. 2021 16:19

Re: Thomas Melle

Bohumil 255 26. 10. 2021 20:05

Re: Thomas Melle

FLYHIGH 408 26. 10. 2021 20:16

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Bohumil 208 27. 10. 2021 08:26

Re: Thomas Melle

Midori 382 26. 10. 2021 20:27

Re: Thomas Melle

Bohumil 248 27. 10. 2021 09:14

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FLYHIGH 233 27. 10. 2021 11:54

@ Bohumil

Deborah 276 26. 10. 2021 13:23

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kinswoman 333 26. 10. 2021 14:14

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Bohumil 297 26. 10. 2021 14:27

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Tarzzan 263 26. 10. 2021 14:45

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FLYHIGH 226 26. 10. 2021 14:35

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Bohumil 620 26. 10. 2021 14:57

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FLYHIGH 297 26. 10. 2021 15:22

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Bohumil 471 03. 11. 2021 21:29

Re: Thomas Melle

Katharina 47 590 09. 11. 2021 17:23

Re: Thomas Melle

kain 354 27. 10. 2021 13:43

Re: Thomas Melle

kinswoman 356 29. 10. 2021 10:02



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