OK,
habe gerade noch die aktuelle Entwicklung gelesen, dass du erst mal woanders wohnst.
Das ist in etwa der Abstand, den er am Anfang gefordert hat. Eben SEHR viel.
Und siehe da, er fängt an, dich zu vermissen und beginnt nachzudenken.
Tja, Angehörigenseminare, Angehörigenselbsthilfegruppen, Bücher haben leider alle nicht soviel Erfahrung, wie die, die es selbst haben. Da kann man nur lernen, wie Angehörige sich fühlen, oder was sie sehen, oder Fakten zur Krankheit aus der Sicht der Wissenschaft und Medizin usw..
Und, sorry, die Erfahrung, die meine liebe Ex-Lebensgefährtin (ohne jede Ironie! wir haben ein sehr gutes Verhältnis...) mit Selbsthilfegruppen gemacht hat, war folgende: Gemischte gibt es nicht, weil die Betroffenen keine Lust darauf haben, sich das Gejammer der Gesunden anzuhören. Legitim. Die Angehörigenselbsthilfegruppen sind oft stammbesetzt von Eltern und Geschwistern, da Beziehungen bei Bipolaren in Krankheitsphasen schnell kaputtgehen. also für Kurzzeitangehörige meist nur ein Kurzzeitaufenthalt stattfindet. Die langjährigen LebensgefährtInnen sind oft alleine und stehen den Betroffenen viel näher als die jammernden Verwandten, da sie Wahlbeziehungen, bzw. Wahlverwandtschaft sind. Man hat sich für sie entschieden, man hat ganz andere Probleme, man ist viel näher daran, im Sinne des Betroffenen zu agieren, ihn möglichst nicht zu entmündigen und zu stimatisieren, und will sich nicht nur ausweinen, sondern auch Lösungen. Ist leider dort oft nicht zu machen.
Cornelia mag rau rüberkommen, aber ich hoffe, du hast das eigentliche Anliegen verstanden, was sie hat.
Und das ist: Wenn du siehst, dass er krank wird, dann bestätige oder ignoriere ihn nicht beim ungewöhnlichen Handeln, sondern reagiere, wie ein stabiler, gesunder Mensch, auf dessen Vernunft und Konsequenz man sich verlassen kann. Also authentisch. Sorgen machen ändert nichts. Sage, wenn er dich verletzt. Ziehe Konsequenzen, nachdem du Grenzen gezogen hast, und er sie danach verletzt.
Passe dich nicht seiner kranken Handlungsweise an. Er muss sich in jeder Phase darauf verlassen können, dass du wenigstens gesund und letztenendes rational bleibst, langfristig. Wie soll er sonst merken, wenn er aus dem Ruder läuft, wenn jeder sein geändertes Verhalten einfach akzeptiert? Keiner GANZ klar macht: Hier ist meine Grenze, du bist einfach drübergelatscht, das machst du sonst nicht. Wenn du das nochmal machst, dann hat das Konsequenzen, nämlich folgende .... (und diese dann auch tatsächlich zieht, wenn es dazu kommt.)
DAS hilft. Ihm und dir.
Hast du jetzt ja auf einmal gemerkt, beim Auszug, oder? Es ändert sich was, weil DU was geändert hast.
Ich witzele ja öfter, wenn Paare, die lang zusammen sind dann heiraten: "Ihr wollt heiraten? Warum wollt ihr eure schöne Beziehung denn zerstören?"
Hat aber durchaus einen ernsteren Hintergrund. Es wird eine Situation verändert, die bereits langfristig funktioniert hat. Ist das notwendig? Oder - wird dadurch wirklich etwas besser, oder kann es nicht sogar zu falschen Grundannahmen kommen? Z.B., dass man sich des Partners auf einmal sicherer sein kann? Sich weniger anstrengen muss? Man zur Not noch ein Trennungsjahr hat, um alles wieder einzurenken, was sonst die Beziehung eben beendet, weil unzumutbar? Kaum jemand denkt über sowas vorher nach. Aber unbewußt kann da doch auf einmal was anders werden, als zuvor.
Es ist vielleicht(!) nicht ganz zufällig, dass du das so in den 8 Jahren vorher nicht so erlebt hast, was du nun an ihm siehst. Ausserdem: Eine Heirat ist was Emotionales. Und Stress. Ob negativer oder positiver oder beides. Und der einzige Auslöser, der eigentlich fast immer beim Beginnen von Krankheitsphasen dabei ist, ist Stress.
Sein Verhalten war schon typisch hypoman, vielleicht sogar eher im oberen Bereich. War nicht zu übersehen.
Und da gewinnen Ego, Selbstbewußtsein, Enthemmung, Lebensfreude, Lust auf Tabuverletzungen, unangemessenes Verhalten speziell im Bereich Sexuelles und Beziehung deutlich an Gewicht. Das ist eine Krankheit, auch wenn es nach Unsensibilität, Dreistigkeit, Bösartigkeit aussieht.
Stell dir mal vor, er hätte einen Hirntumor gehabt, der dieses Verhalten hervorruft. Ist nicht weit hergeholt. Die können Verhalten auslösen, das genauso aussieht, wie klassische schwere psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie oder Bipolare Störungen, als untypisches Verhalten, Psychosen, Größenwahn, Enthemmung etc.pp..
Was würde da überwiegen? Verletztheit über die Verletzungen, die passiert sind, oder eher Sorge darum, wie man die Krankheit besiegt oder lernt, damit zu leben, wenn keine Verbesserung möglich ist?
Wer jetzt denkt: Aber klar, für Krebs kann doch niemand was ... nun, bipolare Störung sucht sich auch niemand aus. Und wer denkt: Nunja, Krebs ist ja auch eine tödliche Krankheit, das steht im Vordergrund... ein Viertel der Bipolaren bringt sich um. Kein Hilferuf, Bilanzhandlung nach zuvielen Verlusten, Affekthandlung, egal, Bipolare sind da Spitzenreiter, wenn es drum geht, zu sterben, bei den psychiatrischen Erkrankungen.
Eine Hypomanie ist doch nicht so hart, kann man sich da nicht zusammenreissen? Der Pfad zwischen normaler Hochstimmung, wie jeder sie hat, und Hypomanie ist schmal. Wenn ich verliebt bin, ist er nicht existent, das ist bei mir exakt dasselbe Gefühl mit selben Auswirkungen, da kann kein Arzt feststellen, ob das krank oder normal ist.
(Liebe macht bekanntlich verrückt, weiss jeder, und ist wahrer, als die meisten denken.)
Hypomanien werden oft nicht erkannt, darum ist es umso wichtiger, aufzuzeigen, wenn sich Symptome zeigen.
Manchmal gibt es ganz charakteristische Vorwarnzeichen (höherer Zigarettenkonsum, geht oft Feiern usw.... upps, ziemlich genau sowas, wie du beschrieben hast.
Menschen mit Bipolar-2-Störungen, also die, die nur Hypomanien und Depressionen haben, haben ein höheres Suizidrisiko. Warum ist das so? Weil sie in der Depression genauso leiden können, wie Bipolar-1-Betroffene, aber man ihnen sagt, sie sollen auf das, was für manche Menschen einfach nur wie Übermut und gute Laune wirkt, verzichten, und das ist nicht einfach zu bewerkstelligen, damit sie das Leid, was sie anschliessend absolut nicht verdient haben, weil es niemand verdient hat, in der Depression, zu verhindern. Das ist sehr ungerecht. Sehr.
Tragisch. Bipolar-1er haben ja wenigstens manchmal große Erleuchtungen, sehen Gott, werden Superman oder Rockstar oder Schauspieler oder reden mit Bäumen und brechen Weltrekorde im Feiern oder Glücklichsein.
Bipolar 2er haben nur relativ alltägliche Erfahrungen in Hypomanie, ein wenig übersteigert, aber haben bei Behandlung evtl. genauso schwere Medi-Nebenwirkungen, die Balance ist möglicherweise noch schwerer auszutarieren, damit auch wirklich eine Verbesserung der Lebensqualität da ist, und die Depressionen sind genauso beschissen, die sind richtig teuer für das bisschen Lebensfreude "mehr".
Er ist der, den du 8 Jahre kennst, und bei dem du auch schon viele anscheinend harmlosere Phasen oder zumindest für dich verträglichere Phasen erlebt hast, und du hast ihn ja trotzdem geheiratet.
Er ist noch derselbe Mensch. Eine Hypomanie selbst verändert einen Menschen nicht wirklich. (Sieht bei Manien und Depressionen manchmal schon ganz anders aus.) Die Folgen können es allerdings sehr wohl.
Wenn die Hypomanie vorbei ist, und das wird kommen, DANN ist es sehr wahrscheinlich, dass er deine Hilfe braucht. Und du ihm wahrscheinlich auch besser helfen kannst. Verpasse nicht den Zeitpunkt, weil du sein Verhalten als dieselbe persönliche Verletzung behandelst, wie du es mit einem gesunden Menschen tun würdest. Denn das ist nicht dasselbe.
Ich weiss ja nicht, ob du meinen Text für Umgang mit Betroffenen in einer Phase am Beispiel einer Hochphase schon kennst, er ist zwar schon ziemlich alt, aber ich habe mir sagen lassen, er wird immer noch gerne gelesen, und meine gute Seele, Sozialarbeiter beim Sozialpsychiatrischen Dienst hat mich sogar gefragt, ob er den in seiner Angehörigengruppe verteilen darf ... er ist wohl für viele hilfreich und bietet eben einen Einblick aus Betroffenenperspektive, den ich damals woanders in Schriftform vermisst habe... würde mich freuen, wenn du ihn lesen würdest. Er ist so ziemlich genau für gerade Langzeitpartner geschrieben worden...
[
dgbs.de]
Ich wünsche euch alles Gute, und dass ihr euch nochmal zusammenrauft. Was so lange so gut war, dass ihr euch zum Heiraten entschlossen habt, sollte man nicht wegwerfen, sondern alles versuchen, was geht.
Liebe Grüße,
Martin