02. 08. 2019 00:09
Hi allerseits,

ich möchte mal etwas Grundsätzliches anmerken. Sputnik hat mich in einem längeren Beitrag darauf gebracht. Ich vermute eigentlich, es ist den meisten hier schon längst klar.

Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Vielleicht kann mir jemand helfen. Seid nicht zu streng mit mir, sondern versucht bitte, mich zu verstehen.


Das dualistische Denken – man könnte es fast, aber nur fast »digitales Denken« nennen – teilt die Welt in zwei Pole: 0 und 1, aktiv und passiv, viel und wenig, männlich und weiblich, Licht und Dunkelheit, Tag und Nacht, Hoch und Tief, Manie und Depression, gesund und krank etc.

Dieses dualistische Denken ist zwei Dinge:
- notwendig unvollständig: es gibt nicht nur Tag und Nacht, sondern auch Abend und Morgen; nicht nur männlich und weiblich, nicht nur Licht und Dunkelheit und nicht nur Manie und Depression, nicht nur Nord und Süd, es gibt fast immer noch Zwischenzustände (außer beim echten digitalen Denken, bei Computern).
- Dieses Denken ist sehr, sehr, sehr verbreitet. Man findet es absolut überall. Das liegt nicht daran, dass die ganze Welt dualistisch wäre (ist sie tatsächlich nicht), das liegt daran, dass das Denken an sich dualistisch organisiert ist; die DNA des Denkens ist dualistisch.
Das könnte damit zusammenhängen, dass es Menschen am leichtesten fällt, jeweils zwei Dinge miteinander zu vergleichen. So ist es völlig natürlich, in Dualismen, in zwei Polen, zweipolig, sozusagen bi-polar, zu denken. In mehr als zwei Polen zu denken, fällt Menschen einfach schwerer.

Deshalb ist es ganz leicht, auch in der Gesellschaft Dualismen zu finden – die sind nicht nur in der Gesellschaft, sie sind einfach überall, weil unser Denken so funktioniert.

Das ist der Grund, warum ich diesen Quatsch von der »bipolaren Gesellschaft« nicht gerne lese. Natürlich gibt es auch in der Gesellschaft zwei Pole – weil wir dazu neigen, einfach überall, wirklich überall!, zwei Pole zu entdecken. In der Gesellschaft sind das von mir aus arm und reich, oben und unten, Sucht und Abstinenz (war bei Sputnik Thema), aktiv und passiv oder sonst irgendwas. Aber nur, weil es zwei Pole gibt, ist es nicht »bipolar« im Sinne der bipolaren affektiven Störung, im Sinne der manisch-depressiven Erkrankung.


Im Grunde ist bipolare Störung gar kein so guter Name für diese Erkrankung.

Zunächst einmal, weil sie – je nach Sichtweise – nicht wirklich bipolar ist; man kann (aber muss nicht) zum Beispiel die Manien mit gutem Grund in euphorische und dysphorische Manien teilen – schon hat man drei Pole. Oder man kann den Zwischenzustand (den »Normalzustand«, die Abwesenheit von Depression und Manie, die Euthymie) zum dritten Pol ernennen. Oder man macht eigene Pole für das Psychotische auf (wobei das nicht so naheliegt)… oder man integriert häufige Komorbiditäten wie Angst oder Sucht noch als eigene Pole. Dann wird es plötzlich multipolar. Oder oder oder.
Die Festlegung auf zwei Pole ist eine absichtliche, zulässige Vereinfachung. Ich verstehe, warum man die gemacht hat. Sie erscheint mir auch sinnvoll. Aber es ist nicht notwendig die einzige Beschreibung dieser Krankheit. Die Krankheit ist komplexer als zwei Pole.

Der Name ist aber vor allem deshalb schlecht, weil die Menschen, die überall natürlicherweise zwei Pole sehen, jetzt hingehen und Dinge sagen wie »Die Gesellschaft selbst ist bipolar« im Sinne von manisch-depressiv. Das ist sie nicht. Oder: Jeder Mensch ist (ein bisschen) bipolar. Das ist er nicht.

Nur weil die allermeisten Menschen Freude und Traurigkeit erleben (was, könnte man sagen, zwei Pole sind, also bi-polar), sind sie eben nicht bipolar, nicht manisch-depressiv. Nur weil wir überall Dualismen sehen, ist nicht alles bipolar im Sinne von manisch-depressiv.

Jemand hier im Forum (Friday?) hat oder hatte die Signatur: »Nicht alles, was schwankt, ist bipolar.« Dem kann ich nur zustimmen.


Zweipolig, bi-polar, ist in unserer Welt ganz vieles, weil wir in Dualismen denken.

Bipolar (manisch-depressiv) dagegen sind die, die an der manisch-depressiven Krankheit erkrankt sind. Und sonst erstmal gar nichts. Meiner Auffassung nach auch nicht die Gesellschaft. Und auch nicht jeder Mensch.


Ich freue mich auf Zustimmung und Widerspruch.

Viele Grüße
otacon


Nachtrag: Das Thema ist mit der Frage verbunden, ob die Depression und die Manie sich von Freude und Trauer kategorial oder nur quantitativ unterscheiden. Klingt kompliziert? Ist ganz einfach:

Wenn der Unterschied zwischen Depression und Traurigkeit ein quantitativer ist, dann ist Depression nichts anderes als »ganz viel Traurigkeit«.

Wenn der Unterschied ein kategorialer ist, dann ist Depression etwas anderes als Traurigkeit (wenn ihr auch nicht immer völlig unähnlich).

Meiner Auffassung nach ist der Unterschied kategorial. In meiner Erfahrung ist Depression, auch wenn sie bei mir ganz oft mit Traurigkeit beginnt, etwas anderes als normale Traurigkeit, nicht nur mehr davon. Das verstehen aber unheimlich viele Menschen, vor allem Nicht-Betroffene, falsch; sie halten den Unterschied nur für quantitativ. Dann wäre tatsächlich jeder Mensch ein bisschen bipolar (er hätte genau die bipolaren Gefühle, nur »weniger« davon, nicht so intensiv).

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organische affektive Störung
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Herzerkrankung
Thema Autor Klicks Datum/Zeit

Dualistisches Denken und die (nicht) bipolare Gesellschaft

otacon 1635 02. 08. 2019 00:09

Re: Dualistisches Denken und die (nicht) bipolare Gesellschaft

A20213 503 02. 08. 2019 14:43

Nur kurz zur Klarstellung

Sputnik19 352 02. 08. 2019 23:21

Wie innen, so aussen..wie oben so unten

downtoearthguy 331 03. 08. 2019 09:57

Re: Nur kurz zur Klarstellung

fahni 338 03. 08. 2019 10:03

Re: Nur kurz zur Klarstellung

Heike 329 03. 08. 2019 11:53

Re: Dualistisches Denken und die (nicht) bipolare Gesellschaft

nebulos 339 03. 08. 2019 15:46

Re: Dualistisches Denken und die (nicht) bipolare Gesellschaft

Skandal 343 08. 08. 2019 13:58

Re: Dualistisches Denken und die (nicht) bipolare Gesellschaft

nurisu 567 23. 08. 2019 20:59



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