Hallo 'Fahni',
natürlich habe ich mir etwas 'auferlegt'. Genau wie Du. Nämlich, den täglichen Verzicht zu üben.
Du verzichtest auf Alkohol; ich übrigens auch, obwohl ich nicht alkoholkrank war. Ich habe einfach gelernt, dass Alkohol mir nicht gut tut.
Selbstverständlich gibt es immer wieder mal etwas, was ich "vermisse". Zum Beispiel eine große Reise machen in Länder in denen ich noch nie war. Oder, zusätzlich zu meinen beiden lieben Katzen noch einen Hund zu haben. Oder...
An diesem Punkt scheinst Du freilich nicht verstanden haben, worum es in meinem Post geht.
Genau darum: Sich in Verzicht zu üben. Oder, wie Deborah es auf den Punkt brachte: Zu lernen, 'Weniger ist Mehr'.
Von daher: Nein. Kein 'Leben in vollen Zügen'. Für mich nicht. Und genau dies zu wollen, oder zu meinen dies tun zu müssen, halte ich für bipolar-Anfällige für höchst problematisch.
Denn in meinen Augen ist auch dieses ständige danach streben, "Neues in sein Leben zu integrieren", ständig - wenn ich dich richtig verstehe: aktiv - "Veränderung zu integrieren" - bei genauem Hinsehen nichts anderes als eine Sucht. Eine Form, immer wieder "Highs" zu erleben. Und wenn dann das Neue nicht mehr neu ist - kommt das "Low". Und wer Low ist, sucht wieder ein neues High.
Ich habe versucht, in meinem Ausgangspunkt, zu verdeutlichen: Unsere ganze Gesellschaft ist durchdrungen von der Sucht. Die 'Mittel' sind austauschbar.
Und ich habe versucht klar zu machen, dass ein Leben im Sucht-Grundmuster gerade für uns bipolar-Anfällige höchst problematisch, ja Rückfall-gefährdend ist.
Ferner habe ich versucht, einen Weg da raus zu propagieren. Der da heißt: Den Verzicht üben. Beides bitte "auf der Zunge zergehen lassen": 1) Verzicht; 2) Üben.
Die fernöstliche Lebensphilosophie empfiehlt aus sehr gutem Grund, ein Leben zu führen das sich nicht an irgendeinem "Erfolg" orientiert. Wiederum handelt es sich in Wirklichkeit um eine Kategorie, die für das Sucht-Muster typisch ist: "Erfolg" ist ein "High" - auf welches früher oder später in irgendeiner Form der Misserfolg oder gar der Absturz folgt. Also das "Low".
Die fernöstliche Lebensphilosophie empfiehlt vielmehr etwas scheinbar viel Bescheideneres. In Wahrheit aber viel Bedeutsameres, auch Schwierigeres. Nämlich das tägliche, alltägliche, Sich-Üben.
Dieses alltägliche Sich-Üben umfasst eine Reihe von Aspekten, die ich nun hier nicht alle aufführen will. Für mich selbst ist jedenfalls zentral, die Übung im 'Verzicht'. Es ist ein Thema, das in unserer Gesellschaft alles andere als populär ist - im Gegenteil.
Man denke nur an den Riesen-Aufschrei, als Die Grünen vor einigen Jahren propagiert haben, wir sollten an einem - 1 - Tag pro Woche auf Fleischessen verzichten.
Sich-Üben im Verzicht wird, leider, - und das klingt ja auch in Deinem Post deutlich durch - mit "Verlust" oder noch schlimmer, "Freiheitsbeschneidung", oder noch schlimmer, "Verarmung", gleichgesetzt.
Dies gilt es, in aufgeklärter Weise klug zu durchschauen.
Kein geringerer als der zeitgenössische Philosoph Richard David Precht hat es, vor kurzem, endlich klipp und klar klargestellt. Und zwar sogar - ! - nicht mal im Zusammenhang mit "Verzicht". Sondern im Zusammenhang mit "Verbot". Er sagte, sinngemäß: "Natürlich muss unsere Politik Verbote durchsetzen. Weil die Menschen nicht in der Lage sind zu verzichten. Verbote aber sind, in der Welt in der wir leben {es ging um Klima-, Umwelt- und Tierschutz}, gerade keine Freiheitsbeschneidung. Sondern sie garantieren (!) unser aller Freiheit." - Dem ist zur Klarstellung hinzuzufügen: Natürlich wäre es schöner, alles würde dadurch funktionieren, dass WIR ALLE AUF BESTIMMTE DINGE VERZICHTEN. Aber das wollen die Leute nicht oder meinen es nicht zu können !
Aus der Aussage von RDP folgt - logisch: Verzicht führt nicht zu Verlust. Sondern zu Freiheit.
Und so ist es. Probiert es aus. Meine Freiheit wächst in dem Maße, in dem ich auf Dinge verzichten kann. Zugleich wachsen innere Ruhe und Zufriedenheit.
Es zu erleben, quasi "am eigenen Leib zu spüren", es im Herzen zu fühlen, was ich alles NICHT "brauche" - öffnet den Blick für das, was ich habe und erzeugt dafür eine tiefe Dankbarkeit.
Und Dankbarkeit heilt - hier darf ich Deborah zitieren!
Schönen Abend
Sputnik19