Guten Abend, guten Tag zusammen,
heute möchte ich mit euch teilen, was nach meiner bisherigen Erfahrung (Erstdiagnose 2002) zur Bewältigung der Erkrankung wichtig ist.
Vorausschicken möchte ich meine These: Egal ob mit oder ohne Medikamente, stets geht es darum, Rückfälle zu vermeiden. Das werden die meisten von euch wissen: Auch "mit" Medikamenten ist man davor nicht wirklich geschützt. Die Psychopharmaka, die wir bekommen - egal welche es sind - sind keine Heilmittel (auch wenn jüngst wieder ein m.E. geradezu mediengeiler deutscher Psychiater dies öffentlich behauptet hat).
Es führt daher kein Weg daran vorbei, wirklich und ganz ernsthaft die Verantwortung für einen Lebensstil zu übernehmen, der es fördert, Stimmungsschwankungen zu vermeiden. Ich nenne einen solchen Lebensstil "heilsam", andere - berühmtere - sprechen im gleichen Sinne von 'Salutogenese'.
Dazu ist es aus meiner Sicht hilfreich, sich zunächst bewusst zu machen, dass wir - zumal in der westlichen Kultur - in einer Welt leben, die Stimmungsschwankungen geradezu systematisch fördert: Überall, aber auch wirklich überall, ist alles darauf angelegt dass wir ständig individuelle "Highs" erleben sollen. Vor allem durch Kaufentscheidungen aller Art, aber auch andere "Genüsse", sei es Musik - ob klassisch, ob zeitgenössisch - sei es Kino, sei es ein "spannender" oder gar "dramatischer" Fernseh-Film, und auch in der Literatur stehen die "Thriller"-Krimis ganz oben auf den Bestseller-Listen. Die Liste geht natürlich weiter mit den üblichen Drogen, seien sie illegal, oder legal, wie Alkohol und Nikotin. Oder, nicht zu vergessen, "Sex". Und Glücks-Spiel.
Unsere Welt scheint uns dauern sagen zu wollen: Wenn du nicht möglichst oft was "besonders Tolles" erlebst, und sei es nur was "ganz kleines Tolles" wie den Geschmack und das Geräusch - "das Zischen" - eines kühlen gluckernden Bieres aus der Flasche getrunken, am Abend - dann fehlt etwas in deinem Leben. Dann ist dein Leben langweilig, ja verarmt.
Mit anderen Worten: DIE SUCHT ist das, was unsere Welt uns - mehr oder weniger klammheimlich - beibringt; so als sei das normal. Große Wirtschaftszweige funktionieren auf dieser Grundlage. Wenn wir genau hinschauen - so meine These - wird jeder von uns etwas finden wo auch er sagen muss: Jepp, auch ich bin "auf Stoff".
Dass aber kein High von Dauer ist, weiß jeder; und es weiß auch jeder, dass es geradezu einem Naturgesetz entspricht - dass auf ein High ein Low folgt. 'What goes up must come down' - da gab es doch mal einen berühmten Song, richtig? Und schon befinden wir uns - in einer gesamtgesellschaftlich angelegten Bipolarität. Wie die Menschen das auf Dauer aushalten - nun, wenn man genau hinschaut: Sehr schlecht. Sehr viele sind tief verschuldet. Sehr viele sind Alkohol-krank. Sehr viele sind sonstwie krank. Nun, und wir haben es "schriftlich": Wir sind 'bipolar'.
Wie kommen wir aus alledem heraus, egal an welcher Art von High-Sucht wir leiden, und insbesondere wenn es uns "bipolar" erwischt hat?
Nun, wie eingangs gesagt: Der Verlass auf die Medikamente genügt nicht. Wir müssen unsere Lebens-Kräfte, sämtliche gesunden Anteile mobilisieren und gegebenenfalls neu bilden. Dafür brauchen wir eine wirklich geeignete therapeutische Begleitung.
Ich selbst habe viele Jahre lang eine psychoanalytisch orientierte Therapie gemacht. Das war ein Stück weit gut, hatte aber, und da stehe ich heute, seine Grenzen. Um jegliche High-Sucht zu erkennen, und diese zu bewältigen, braucht es eine auf die Gegenwart zentrierte therapeutische Begleitung. Ich selbst bin daher gerade dabei, eine achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie zu beginnen.
Das Folgende mag nun für Viele für euch überraschend klingen; aber es kann ja jeder der möchte mal ausprobieren.
Probiert doch einfach mal aus, ganz bewusst auf alle "Gefühls-Highs" im Alltag zu verzichten. Verzichten-Können - das ist natürlich ein Thema für sich. In meinen Augen ein wichtiges.
Probiert einmal aus, auf Musik zu verzichten. Ja ich weiß - gerade in unserer westlichen Kultur wird die Musik "ganz hoch gehalten". Natürlich völlig zu Recht. Dagegen sage ich auch nichts. Aber es ist eine ganz andere Frage, ob - und welche! - Musik mir, mit meiner bipolar-Anfälligkeit, GUT TUT. Ich für meinen Teil, die ich in einem Elternhaus groß geworden in dem man die klassische Musik geschätzt und geliebt hat, wofür ich sehr dankbar bin, sage nur: Mehr als einmal - ! - war für mich das intensive Hören von klassischer Musik wie Benzin ins Feuer, in einer beginnenden Manie. Aber auch die heutige, moderne Musik, egal welchen Genres, und egal ob sie die Gefühle in Höhe jubelt oder aber ob sie sehr melancholisch ist - begünstigt Stimmungsschwankungen nach oben oder nach unten, was ich für mich als sehr ungut erkannt habe.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen höre ich allenfalls noch ostasiatische, meditative Musik. Die kein "Gefühl" von mir "will".
Gerade als bipolar-Anfälliger heißt es, aus meiner Sicht: Die Schönheit der Stille ganz neu entdecken und schätzen lernen. Stille außen; Stille innen. Nein - das ist nicht langweilig!
Auch sonst übe ich mich täglich darin, "den Ball flach zu halten". Natürlich gibt es jeden Tag gefühlte tausend Dinge, über die ich mich "aufregen" könnte; manchmal so sehr dass ich "einen Leserbrief schreiben" will und Ähnliches.
Früher habe ich mich häufig zu derartigen Aufregern hinreißen lassen. Nie hat es mir gut getan, auch wenn ich nicht krank geworden bin. Und nie hat es die Welt geändert.
Heute - lasse ich es. Ich mache täglich - und wenn's nur eine Kleinigkeit ist - etwas in meinem Garten. Ein Garten, egal ob größer oder kleiner, ist ein wirkliches Glück. Wenn ihr irgendwie könnt - schafft euch einen Garten an. Da, im Garten, gibt es - täglich! - irgendein kleines - oder größeres - Wunder zu entdecken! Ebenso auf den täglichen Spaziergängen. Zum Beispiel, welche tollen Pflanzen selbst in Ritzen und auf völlig kargem, ausgetrocknetem Boden wachsen und blühen.
"Wer zu gehen weiß, ohne eine Spur zu hinterlassen, geht gut" (Konfuzius).
Nun, ob ich jemals "so weit komme", weiß ich wahrhaftig nicht. Es ist noch ein weiter Weg, da mache ich mir nichts vor. Aber wieviel ich tun kann - wenn ich wirklich darauf achte - um täglich "den Ball flach zu halten", und dass dies so gesund für mich ist wie das tägliche Wasser - das ist mir klar. Und mir ist auch klar: Wenn ich mich bemühe, wenn ich mich in 'Selbstbeherrschung' übe, dann ist es gar nicht so schwer.
Viele Grüße,
Sputnik19