Hallo Sputnik,
nun geht nicht jeder bei dem Wort "Genesung" von der Definition von Wikipedia aus, sondern interpretiert es für sich selbst. Einige sehen Genesung, wenn sie dass Gefühl haben, das Leben wieder selbst im Griff zu haben, im Führerhaus zu sitzen, Verantwortung zu übernehmen und an der Gesellschaft teilhaben zu können. Vielleicht eher mit dem subjektiven Begriff des Wohlbefindens vergleichbar.
Das bedeutet, dass sich auch Menschen als Genesen ansehen, die all das oben genannte für sich empfinden, trotz, dass sie ggf. noch weitere Hilfen, Medikamente oder was weiß ich, in Anspruch nehmen (müssen). Lebensqualität, Wohlbefinden, Teilhabe ist also nicht auf Abwesenheit von einer Einschränkung abhängig. Sie können also auch erlangt werden, trotz einer Beeinträchtigung.
Das ein gesunder Lebensstil, mit ausgewogener Ernährung und Bewegung sich auch positiv auf das seelische Wohlbefinden auswirkt, wird auch von der Schulmedizin nicht bestritten. Ob im stationären oder ambulanten Setting, werden immer wieder Angebote zu diesen Themen gemacht und sie auch für wichtig erachtet. Es ist ein Baustein von vielen anderen, die dazu beitragen können, ebenso an der Stabilisierung zu arbeiten. Dazu kann z.B. auch gehören, dass jemand sich wieder einer Aufgabe widment, ob Hobbygärtnern oder ehrenamtliches Engagement in Vereinen oder Gemeinden oder durchaus wieder auf beruflicher Basis.
Viele können vielleicht sogar mit gesundem Lebensstil, Omega3 Fettsäuren, Vitamin D und einer als sinnvoll erachteten Aufgabe, sowie das Kennen von Trigern und Auslösern, achtsamen Umgang mit sich selbst, viel zur Stabilität beitragen, aber ggf. nicht gänzlich auf Medikamente verzichten. Aber das ist ja auch nicht schlimm, wenn insgesamt ein Gefühl von Wohlbefinden besteht. Andere können vielleicht, durch diese Strategien die Medikamente ggf. etwas runterfahren und jene, die eine eher leichte Ausprägung der bipolaren Störung haben, können wohlmöglich auch mit diesen Strategien ihre Stimmungen auszugleichen versuchen.
In der psychiatrischen Pflege hat sich gezeigt, dass diejenigen Menschen, die versuchen, ihre Störung in ihrem Lebenskontext zu sehen, die das Gefühl haben, selbst ebenso Möglichkeiten haben, um Einfluss auf ihre Befindlichkeit zu nehmen, sowie insgesamt einen Sinnzusammenhang stellen, angeben, sich positiver und wohler zu fühlen. Bei den Menschen, die es eher als Schicksal, als etwas Nichtzuänderndes und Nichtbeeinflussbar sehen, hatten eher negativer Gefühle und ein geringes Wohlbefinden angegeben.
Das deckt sich mit den Ergebnissen von Aaron Antonovsky, der den Begriff des Koheränzgefühl prägte. Ein starkes Kohärenzgefühl, welches mit den 3 Eigenschaften der Verstehbarkeit (Kontextsuche), Handhabbarkeit (Möglichkeit des eigenen Einflusses) und Sinnhaftigkeit (Sinnhaftes zu entdecken oder einen Sinnzusammenhang herstellen) einhergeht, weist häufig auf ein positives Selbst und dem Gefühl des subjektiven Wohlbefindens hin.
Gerade in der psychiatrischen Pflege gewinnen diese Erkenntnisse immer mehr an Bedeutung.
Viele Grüße Heike
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Ich bin ein Mensch mit vielen Farben und Facetten zeitweise unterbrochen durch unipolar depressiven Phasen, im MD-Forum schon seit 2002 vertreten.
"Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ›geheilt‹ oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können" (Patricia Deegan 1996).