Hi Kinswoman,

ich stimme Dir zu, das ist eine hoch interessante Frage, zudem natürlich wahnsinnig komplex.

Ein Beispiel aus anderem Bereich:
Wann immer ich bei einem Physiotherapeuten bin, stellt der fest, dass ich eine ungewöhnlich gerade Wirbelsäule habe, da feht die S-Form weitgehend. Angeblich müsste ich deswegen in meiner Bewegung eingeschränkt sein und wahnsinnige Schmerzen haben. Trifft beides nicht zu, es geht mir schmerzfrei gut. Das Skelett als rein mechanisches Gebilde müsste im Grunde relativ leicht in seiner Funktionsfähigkeit zu beurteilen sein, gesund und krank sollte man da recht sicher zuordnen können. Bei mir sagen die Befunde: krank, ich fühle mich aber gesund. Was heißt das jetzt? Bin ich jetzt gesund, oder rede ich mir das nur ein? Sollte ich mich krank fühlen, weil ich eine objektiv verformte, also kranke Wirbelsäule habe?
Mir scheint deswegen, dass es wohl schon auf einer relativ simplen, mechanischen Ebene somatischer Erkrankungen schwer ist, eindeutige Bewertungen vorzunehmen.

Die Psyche ist weit, weit komplexer als das Skelett.

Was müsste man denn tun, um den Grad einer bipolaren Erkrankung messen zu können? Um überhaupt messen zu können, muss ich mein Gerät eichen, d.h. ich muss einen Nullpunkt definieren. Sonst gibt es keine vergleichbaren Messungen. "Nullpunkt" bei eines psychischen Erkrankung heißt dann wohl, dass ich definieren muss, was "geistig normal" ist. So immens unterschiedlich wir alle sind, wird das ein kühnes Unterfangen. Letzten Endes wird man "normal" realtiv willkürlich definieren, was anderes kann ich mir kaum vorstellen.
Danach muss ich mir ein Set an Kriterien ausdenken, das ich messen möchte. Z.B. Schlafrhythmus, Arbeitsfähigkeit, Frequenz und Stärke (muss man ebenfalls messen) der Episoden, Kommunikationsfähigkeit, Stärke psychotischer Elemente, Aggressivität, Suizidalität, Rückzug bzw. Teilnahme am öffentlichen Leben und einige mehr. Es gäbe sicherlich viel Streit in der wissenschaftlichen Welt, bis ein Katalog aus 12 bis 20 Kritereien zusammen gestellt wäre. Schon bei meinen zufällig gewählte Kriterien zeigt sich, wie schwer diese im Einzelnen zu messen wären.
Wäre all dies zusammen und man begänne zu messen, auf einer Skala von 0 bis 10, dann wäre ich vielleicht ein 7,8 erkrankter Bipolarer. Was würde mir das sagen? Ging es mir dann besser?
(Für Ämter wäre das natürlich wahnsinnig hilfreich, die lieben Zahlen.)

Mein Psychiater erkennt natürlich viele Dinge von sich aus, er sieht mein Auftreten, hört den Tonfall, zieht Schlüsse aus dem was ich wie erzähle, aber ebenso notwendig ist für ihn, wie ich meine Befindlichkeit, meine Gedanken und Gefühle selber darstelle (das kann er glaubwürdig finden, oder strategisch). Er kann sicherlich viel, aber in meinen Kopf kucken kann er nicht. Auch nicht in mein Herz. Eine gute Diagnose kann er ohne meine Schilderungen kaum erstellen.

Fazit bis hier ist, dass ich den Wunsch, man könne die Krankheit messbar, also objektivierbar machen, durchaus teile, aber ich glaube nicht dran. Maximal würden wir sehr dürftige und lückenhafte Annäherungen erreichen, das Thema ist viel zu komplex.

Aber Du sprichst auch noch an, dass hier viele hinkommen, um ihre eigene Krankheitsgeschichte irgendwie "einordnen" zu können. Ich gehöre dazu. Es hilft mir tatsächlich sehr, die einzelnen Berichte über den eigenen Krankheitsverlauf zu lesen. Da sind viele dabei, wo ich denke, dass ich richtig "Glück" gehabt habe, andere sind deutlich milder als meine eigene Geschichte. Das macht mir eine "relative" Einordnung möglich: ich liege über dem, aber unter dem, auf einem Spektrum von-bis. Ich habe zwar keinen exakten Zahlenwert, dennoch aber eine relative Orientierung zwischen eher harmlos und volles Rohr katastrophal. Orientierungslos bin ich nicht mehr.

LG ........... Brickman