Dein erster Satz ist wunderbar und exakt das, wovon ich ebenfalls überzeugt bin.
Ich habe über 20 Jahre mein Leben in einem Buch zusammengefasst, das nie veröffentlicht werden wird. Ich habe es für meine beiden Kinder geschrieben, damit sie - irgendwann, wenn sie bereit dafür sind - einmal die ganze Geschichte auch aus meiner Perspektive sehen bzw. lesen können.
Ich war vor der Trennung und Scheidung fünf Jahre lang Hausmann und dadurch sehr eng und fast immer mit ihnen zusammen. Danach gab es teilweise über lange Jahre überhaupt keine Kontaktmöglichkeit, weil mir alles verbaut wurde. Keine Briefe, kein Telefonat, nichts. Im Scheidungsurteil festgesetzte Besuchszeiten? Vergiss es! Nicht einmal das eine Wochenende im Monat wurde mir erlaubt von der Frau, die die Mutter der beiden ist. Und warum? Ich bin ja der gefährliche Wahnsinnige. Egal, ob in einer Phase oder Krise oder "normal" oder was auch immer: Einmal gaga = für immer und ewig gaga. So fuktioniert das eben mit dem Stigma.
Es wurde irgendwann sogar versucht, mir per Gericht das Umgangsrecht für immer zu entziehen. Da wurden dann auch die schlimmsten Karten gezogen, etwa die:
Ich sei ja schwul. Stimmt! Trotzdem die beiden Kinder und die Ehe. Das war aber keine Alibi-Ehe und die Kinder waren keine "Unfälle", sondern sie wurden herzlich eingeladen. Und ich bin so froh, dass ich sie habe und ich bin so stolz auf sie! Wunderbare Menschen.
Mein Sohn lebt und arbeitet in Vancouver, Kanada. Furchtbar weit weg, wir sehen uns höchstens einmal im Jahr, viel zu selten. Manchmal denke ich, er musste so weit weg wie möglich von der Mutter. Möglich wäre es.
Meine Tochter lebt ca. eine Stunde von mir entfernt und sie hat mich letzten September zum Großvater gemacht. Ich bin überglücklich, der Kleine ist so großartig. Nur sehen darf ich ihn seit Wochen nicht mehr, denn: Alle sind überzeugt, dass ich gerade mal wieder spinne. Das tut verdammt weh. Und egal, was ich tue, es wird alles so verdreht, dass es gegen mich verwendet werden kann. Meine Anrufe werden weder entgegegenommen noch wird zurückgerufen. Ich kenne das ja schon, aber es ist immer gleich schmerzhaft. Strafe durch Kontakt- und Liebesentzug. Verdammt aber auch. - Ich schweife ab.
Jedenfalls hieß es vor Gericht von dem gegnerischen Anwalt: Weil ich schwul sei, habe ich sicher noch andere Interessen als rein väterliche, was meinen Sohn angeht (er war damals sieben Jahre alt). Dazu nickte meine Ex-Frau vielsagend. - Unglaublich! Nicht nur, dass das uralte Vorurteil wieder einmal ausgepackt wurde, schwul = pädophil, sondern dass mir das überhaupt unterstellt wurde. Auch wenn mein Anwalt gleich aufsprang und sich solche Vermutungen verbat: Der Gedanke war in der Welt und nicht mehr zurückzunehmen. Und jedes Mal, wenn ich daran denke, laufen mir Tränen der Machtlosigkeit aus den Augen. Jetzt eben auch wieder. Und das sind keine guten, wohltuenden Tränen, nach denen alles leichter wird. Diese sind wie Säure und brennen sich jedes Mal tiefer und tiefer in meine Seele und werden zu schwärenden Wunden, die nie verheilen werden. Nie verheilen können. Und nie verheilen dürfen.
. . .
Jedenfalls, um wieder auf den Anfang zurückzukommen:
In meinem Buch steht ganz am Anfang dieser Satz:
Was ich hier schreibe, ist meine Wahrheit. Sie ist nicht mehr oder weniger wahr als die Wahrheit von anderen, die Teil meiner Geschichte sind bzw. waren und die deshalb hier erwähnt werden. Jeder hat seinen eigenen Blick, seine eigene Perspektive, die sich natürlicherweise von der meinen unterscheidet.
Deshalb denke ich: Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Worum ich mich hier bemühe, ist eine absolute Ehrlichkeit, mir selbst wie allen anderen gegenüber.
Du siehst, wir sehen das sehr ähnlich, wenn nicht genau gleich.
Danke Dir dafür.
Herzlich:
Martin