Lernen, den Ball flach zu halten

01. 08. 2019 22:14
Guten Abend, guten Tag zusammen,

heute möchte ich mit euch teilen, was nach meiner bisherigen Erfahrung (Erstdiagnose 2002) zur Bewältigung der Erkrankung wichtig ist.

Vorausschicken möchte ich meine These: Egal ob mit oder ohne Medikamente, stets geht es darum, Rückfälle zu vermeiden. Das werden die meisten von euch wissen: Auch "mit" Medikamenten ist man davor nicht wirklich geschützt. Die Psychopharmaka, die wir bekommen - egal welche es sind - sind keine Heilmittel (auch wenn jüngst wieder ein m.E. geradezu mediengeiler deutscher Psychiater dies öffentlich behauptet hat).

Es führt daher kein Weg daran vorbei, wirklich und ganz ernsthaft die Verantwortung für einen Lebensstil zu übernehmen, der es fördert, Stimmungsschwankungen zu vermeiden. Ich nenne einen solchen Lebensstil "heilsam", andere - berühmtere - sprechen im gleichen Sinne von 'Salutogenese'.

Dazu ist es aus meiner Sicht hilfreich, sich zunächst bewusst zu machen, dass wir - zumal in der westlichen Kultur - in einer Welt leben, die Stimmungsschwankungen geradezu systematisch fördert: Überall, aber auch wirklich überall, ist alles darauf angelegt dass wir ständig individuelle "Highs" erleben sollen. Vor allem durch Kaufentscheidungen aller Art, aber auch andere "Genüsse", sei es Musik - ob klassisch, ob zeitgenössisch - sei es Kino, sei es ein "spannender" oder gar "dramatischer" Fernseh-Film, und auch in der Literatur stehen die "Thriller"-Krimis ganz oben auf den Bestseller-Listen. Die Liste geht natürlich weiter mit den üblichen Drogen, seien sie illegal, oder legal, wie Alkohol und Nikotin. Oder, nicht zu vergessen, "Sex". Und Glücks-Spiel.

Unsere Welt scheint uns dauern sagen zu wollen: Wenn du nicht möglichst oft was "besonders Tolles" erlebst, und sei es nur was "ganz kleines Tolles" wie den Geschmack und das Geräusch - "das Zischen" - eines kühlen gluckernden Bieres aus der Flasche getrunken, am Abend - dann fehlt etwas in deinem Leben. Dann ist dein Leben langweilig, ja verarmt.

Mit anderen Worten: DIE SUCHT ist das, was unsere Welt uns - mehr oder weniger klammheimlich - beibringt; so als sei das normal. Große Wirtschaftszweige funktionieren auf dieser Grundlage. Wenn wir genau hinschauen - so meine These - wird jeder von uns etwas finden wo auch er sagen muss: Jepp, auch ich bin "auf Stoff".

Dass aber kein High von Dauer ist, weiß jeder; und es weiß auch jeder, dass es geradezu einem Naturgesetz entspricht - dass auf ein High ein Low folgt. 'What goes up must come down' - da gab es doch mal einen berühmten Song, richtig? Und schon befinden wir uns - in einer gesamtgesellschaftlich angelegten Bipolarität. Wie die Menschen das auf Dauer aushalten - nun, wenn man genau hinschaut: Sehr schlecht. Sehr viele sind tief verschuldet. Sehr viele sind Alkohol-krank. Sehr viele sind sonstwie krank. Nun, und wir haben es "schriftlich": Wir sind 'bipolar'.

Wie kommen wir aus alledem heraus, egal an welcher Art von High-Sucht wir leiden, und insbesondere wenn es uns "bipolar" erwischt hat?

Nun, wie eingangs gesagt: Der Verlass auf die Medikamente genügt nicht. Wir müssen unsere Lebens-Kräfte, sämtliche gesunden Anteile mobilisieren und gegebenenfalls neu bilden. Dafür brauchen wir eine wirklich geeignete therapeutische Begleitung.

Ich selbst habe viele Jahre lang eine psychoanalytisch orientierte Therapie gemacht. Das war ein Stück weit gut, hatte aber, und da stehe ich heute, seine Grenzen. Um jegliche High-Sucht zu erkennen, und diese zu bewältigen, braucht es eine auf die Gegenwart zentrierte therapeutische Begleitung. Ich selbst bin daher gerade dabei, eine achtsamkeitsbasierte kognitive Verhaltenstherapie zu beginnen.

Das Folgende mag nun für Viele für euch überraschend klingen; aber es kann ja jeder der möchte mal ausprobieren.

Probiert doch einfach mal aus, ganz bewusst auf alle "Gefühls-Highs" im Alltag zu verzichten. Verzichten-Können - das ist natürlich ein Thema für sich. In meinen Augen ein wichtiges.

Probiert einmal aus, auf Musik zu verzichten. Ja ich weiß - gerade in unserer westlichen Kultur wird die Musik "ganz hoch gehalten". Natürlich völlig zu Recht. Dagegen sage ich auch nichts. Aber es ist eine ganz andere Frage, ob - und welche! - Musik mir, mit meiner bipolar-Anfälligkeit, GUT TUT. Ich für meinen Teil, die ich in einem Elternhaus groß geworden in dem man die klassische Musik geschätzt und geliebt hat, wofür ich sehr dankbar bin, sage nur: Mehr als einmal - ! - war für mich das intensive Hören von klassischer Musik wie Benzin ins Feuer, in einer beginnenden Manie. Aber auch die heutige, moderne Musik, egal welchen Genres, und egal ob sie die Gefühle in Höhe jubelt oder aber ob sie sehr melancholisch ist - begünstigt Stimmungsschwankungen nach oben oder nach unten, was ich für mich als sehr ungut erkannt habe.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen höre ich allenfalls noch ostasiatische, meditative Musik. Die kein "Gefühl" von mir "will".

Gerade als bipolar-Anfälliger heißt es, aus meiner Sicht: Die Schönheit der Stille ganz neu entdecken und schätzen lernen. Stille außen; Stille innen. Nein - das ist nicht langweilig!

Auch sonst übe ich mich täglich darin, "den Ball flach zu halten". Natürlich gibt es jeden Tag gefühlte tausend Dinge, über die ich mich "aufregen" könnte; manchmal so sehr dass ich "einen Leserbrief schreiben" will und Ähnliches.

Früher habe ich mich häufig zu derartigen Aufregern hinreißen lassen. Nie hat es mir gut getan, auch wenn ich nicht krank geworden bin. Und nie hat es die Welt geändert.

Heute - lasse ich es. Ich mache täglich - und wenn's nur eine Kleinigkeit ist - etwas in meinem Garten. Ein Garten, egal ob größer oder kleiner, ist ein wirkliches Glück. Wenn ihr irgendwie könnt - schafft euch einen Garten an. Da, im Garten, gibt es - täglich! - irgendein kleines - oder größeres - Wunder zu entdecken! Ebenso auf den täglichen Spaziergängen. Zum Beispiel, welche tollen Pflanzen selbst in Ritzen und auf völlig kargem, ausgetrocknetem Boden wachsen und blühen.

"Wer zu gehen weiß, ohne eine Spur zu hinterlassen, geht gut" (Konfuzius).

Nun, ob ich jemals "so weit komme", weiß ich wahrhaftig nicht. Es ist noch ein weiter Weg, da mache ich mir nichts vor. Aber wieviel ich tun kann - wenn ich wirklich darauf achte - um täglich "den Ball flach zu halten", und dass dies so gesund für mich ist wie das tägliche Wasser - das ist mir klar. Und mir ist auch klar: Wenn ich mich bemühe, wenn ich mich in 'Selbstbeherrschung' übe, dann ist es gar nicht so schwer.

Viele Grüße,

Sputnik19
Thema Autor Klicks Datum/Zeit

Lernen, den Ball flach zu halten

Sputnik19 2343 01. 08. 2019 22:14

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Kessy 499 01. 08. 2019 23:51

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Deborah 499 02. 08. 2019 05:46

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

fahni 375 02. 08. 2019 16:02

Re: Lernen, den Ball flach zu halten | Das tägliche Sich-Üben

Sputnik19 395 02. 08. 2019 20:03

Re: Lernen, den Ball flach zu halten | Das tägliche Sich-Üben

A20213 339 02. 08. 2019 21:01

Re: Lernen, den Ball flach zu halten | Das tägliche Sich-Üben

Heike 372 02. 08. 2019 21:11

@ Heike - cc. Sputnik19

Deborah 355 03. 08. 2019 20:04

Nachtrag

Deborah 346 04. 08. 2019 05:41

Re: Nachtrag

Frech 302 04. 08. 2019 09:31

Re: Lernen, den Ball flach zu halten | Das tägliche Sich-Üben

VanGogh 310 03. 08. 2019 13:43

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Frech 382 03. 08. 2019 05:53

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

kinswoman 399 03. 08. 2019 10:05

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

zuma 392 03. 08. 2019 15:54

Re: Lernen, sich mitzuteilen

Lichtblick 579 02. 08. 2019 19:25

übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

nebulos 523 03. 08. 2019 11:10

Re: übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

Heike 309 03. 08. 2019 11:50

Re: übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

nebulos 275 03. 08. 2019 16:38

Re: übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

Heike 283 03. 08. 2019 17:40

Re: übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

Frech 334 03. 08. 2019 11:58

Re: übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

A20213 285 03. 08. 2019 13:40

Re: übermäßiger Verzicht = Verlust an Lebensqualität und Robustheit?!?

nebulos 274 03. 08. 2019 16:19

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Hotte 290 03. 08. 2019 16:16

Versuch eines kurzen Zwischen-Resümees

Sputnik19 305 03. 08. 2019 22:08

Re: Versuch eines kurzen Zwischen-Resümees

Heike 273 03. 08. 2019 22:57

Ergänzung auch der Verzicht hat seine Fallstricke

Heike 583 03. 08. 2019 23:37

Re: Versuch eines kurzen Zwischen-Resümees

nebulos 288 03. 08. 2019 23:12

Re: Versuch eines kurzen Zwischen-Resümees

Heike 271 04. 08. 2019 00:21

Re: Versuch eines kurzen Zwischen-Resümees

nebulos 283 04. 08. 2019 00:50

Konkretes Schreiben wäre so viel besser als abstraktes

Lichtblick 514 04. 08. 2019 00:04

Re: Konkretes Schreiben wäre so viel besser als abstraktes

Frech 511 04. 08. 2019 11:37

Re: Konkretes Schreiben wäre so viel besser als abstraktes

Frech 305 04. 08. 2019 12:49

Re: Konkretes Schreiben wäre so viel besser als abstraktes

kinswoman 313 04. 08. 2019 13:08

Sachlichkeit

nebulos 291 04. 08. 2019 17:22

Re: Sachlichkeit

Frankkk 305 04. 08. 2019 17:51

Re: Sachlichkeit

nebulos 292 04. 08. 2019 18:09

Re: Sachlichkeit

A20213 289 04. 08. 2019 18:57

@A20213&nebulos

kinswoman 296 04. 08. 2019 19:07

@Lichtblick: Res Ipsa Loquitur

Sputnik19 332 04. 08. 2019 10:28

Toleranz und Kontinenz

fahni 306 04. 08. 2019 14:24

Res Ipsa Loquitur. Auf Deutsch: Finde ich auch richtig so

Lichtblick 297 04. 08. 2019 22:07

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Skandal 570 04. 08. 2019 14:21

Re: Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

Heike 321 04. 08. 2019 18:42

Re: Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

fahni 506 04. 08. 2019 21:18

Re: Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

Deborah 461 05. 08. 2019 06:16

Re: Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

A20213 287 05. 08. 2019 11:44

Schwarmintelligenz der Foren

fahni 294 05. 08. 2019 12:32

Re: @ A20213 - Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

Mexx55 482 05. 08. 2019 12:55

Re: @ A20213 - Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

zuma 358 05. 08. 2019 13:14

An Heike, Sputnik und über Psychoedukation

Lichtblick 311 05. 08. 2019 19:36

Re: An Heike, Sputnik und über Psychoedukation

Frech 314 06. 08. 2019 03:33

Re: An Heike, Sputnik und über Psychoedukation

Friday 320 07. 08. 2019 12:42

Re: Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

Frech 289 06. 08. 2019 05:08

Re: Lernen, den Ball flach zu halten - auch in Diskussionen

A20213 290 06. 08. 2019 06:47

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Milla 369 04. 08. 2019 19:01

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

abcd 628 05. 08. 2019 18:49

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Ceily 319 06. 08. 2019 08:17

Re: Lernen, den Ball flach zu halten

Sonrisa87 573 09. 08. 2019 19:34



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