Abschied

30. 06. 2013 11:38
Ich war lange nicht mehr im Forum.

Mir gegenüber gab es hier einiges an Angriffen und Misstrauen, was ich auch von meiner Frau in bestimmten Phasen als Teil der Störung kannte, aber wie ich glaube auch wegen der Rollenvermischung, da ich hier als Ehemann und gleichzeitig Therapeut teilgenommen habe. Und Unklarheit oder schlimmer noch Ambivalenz wird von Menschen mit bipolarer Störung offensichtlich schlecht vertragen und wird zur Zielscheibe von Aggressionen. Kein Wunder, wenn meine Beobachtung übertragbar ist, dass eine tiefgreifende, unlösbare und im Prinzip auch unaushaltbare Ambivalenz im Inneren die eigentliche Ursache der Störung ist.

Bei meiner Frau war das auf der einen Seite, tief unter der Oberfläche, wo höchstens ich mal ein wenig hineinschauen konnte, das brave, angepasste Mädchen ihrer Kindheit, das sich der Familie mit ihren Normen, Werten und ihrer Not in Form der Querschnittslähmung des Vaters vollständig aufopferte. Die Familie war evangelisch, also musste diese Aufopferung noch dazu selbstverständlich, gern und fröhlich erfolgen. Sonst drohten Schuldgefühle und im schlimmsten Falle Verachtung, Unverständnis und Ausstoßung, und ein kleines Kind kann ja ohne Familie nicht leben. Aber mit diesen Drohungen musste natürlich nie gewunken werden, wie bei den Katholen, bei denen es dann ewige Schuld, Verdammnis und Hölle geben würde, denn sie war ja ein braves Mädchen. Deshalb konnte sie sich auch nie wirklich gegen übermäßige Ansprüche durch Arbeitgeber, Kinder oder den früheren Ehemann wehren.

Auf der anderen Seite stand das Aufbegehren, die innere Rebellion, ihr ureigenes Wesen, der Kampf um ihre Existenz als genau sie selbst, die was „für sich wollte“, ein starker Kampfimpuls, im Grunde der Kampf um ihr persönliches Existenzrecht. Diese Seite tobte sich dann in der erlaubenden Verrücktheit der Manie aus, wenn auch in kaum noch erkennbaren Zerrformen, war aber tief mit Schuld und Verbot behaftet, was sie irgendwann einholte, denn sie konnte nie wirklich eine klare Entscheidung zwischen den beiden Polen treffen, sich selbst nie für sich und damit gegen die Familie entscheiden. Was auf der Erwachsenenebene so klar und verständlich wirkt, aber auf der inneren Kinderebene einfach unmöglich auch nur zu denken war. Gleichzeitig ist die Manie ja häufig auch eine Flucht, vor der Depression, vor den Wahrheiten des eigenen Lebens, vor all den anscheinend unlösbaren Konflikten. Manie ist aus meiner Sicht gleichzeitig ein „hin zu“ und ein „weg von“, eine natürlich nutzlose Flucht.

Ich, die Ehe mit mir und unsere Lebensführung standen im Leben meiner Frau für „sie selbst“, ich habe sie immer als Simone gesehen und sie immer bestärkt, dass sie sich und ihre Wahrheit lebt und nicht für mich oder irgendwen sonst. Was den Konflikt bestimmt noch verstärkt hat, denn je mehr die Psyche ihr Gewicht in die Waagschale des einen Pols wirft, desto stärker ist auch die Gegenreaktion in die andere Richtung, desto größer die Ausschläge. Der innere Kampf kann niemals durch Gewinnen entschieden werden, auch nicht, wenn die Psyche sich im Kampf erschöpft und der Körper, der da mit durchmuss, in seiner Substanz und Energie zerstört wird. Es ist so, als wolle man Palästina und Israel befrieden, indem man ihnen mehr Waffen gibt. Aber dass meine Bestärkung und Liebe ihren Konflikt verstärkt, habe ich erst spät verstanden.

Im letzten Jahr hat meine Frau eine beachtliche Erbschaft erhalten. Wir wollten ohnehin auf eine deutsche Ostseeinsel umziehen, um dort unseren Lebensabend zu verbringen, und ich hatte, strategisch gedacht, die Idee, dass ein Haus weniger leicht ausgegeben werden kann als Bargeld. So haben wir tatsächlich ein wunderschönes Haus mit großem Garten gekauft und geplant, Ende 2013 dorthin zu ziehen. Etwa einen Monat später starb meine Frau. Sie wartete noch, bis ich nach Hause kam, zehn Minuten später lag sie tot in meinen Armen, gestorben plötzlich, unerwartet, ohne Angst und ohne Schmerz. Damit war auch mein Leben zu Ende, denn unser „wir“ war mein Lebensmittelpunkt und meine Erfüllung. Meine Verantwortungen erlaubten mir nicht, ihr zu folgen, so habe ich mit Kampfsport begonnen, in dem Wissen, dass ich Gradlinigkeit, Zielgerichtetheit, Durchsetzungskraft und körperliche Belastbarkeit in vielerlei Hinsicht brauchen würde. Ein Jahr später hat sich diese Strategie - neben vielem anderen wie superguten Freunden, dem Aushalten und Durchleben von Trauer und Schmerz, dem Wegbeamen in den Wiederholungen aller Enterprise-Folgen im Fernsehen und einer schweizerischen Heilerin - als tragend und hilfreich erwiesen. Wenn ein „neues Leben“ auch nicht in Sicht ist, so schlage ich mich doch wacker in der Bewältigung aller äußeren und inneren Aufgaben und hoffe, eines Tages wieder ein neues Leben für mich zu finden, das lebenswert und erfüllend ist. Jedenfalls war ich nie in der Depression, nur tief deprimiert und todtraurig. Trotz gelegentlicher Aufhellung bin ich das, ein furchtbares Jahr später, immer wieder. Noch dieses Jahr werde ich nach Abwicklung der Erbschaftsangelegenheiten (ich empfehle dringend, frühzeitig ein gut ausgearbeitetes Testament zu machen, sonst drohen viel Not und Streit!) in „unser“ Haus nach MäcPomm ziehen und die Natur wird hoffentlich heilsam für mich sein. So geht dieser so reichhaltige und trotz aller Belastungen so beglückende und erfüllende Lebensabschnitt zu Ende, die wohl glücklichste Zeit meines Lebens.

Zurück zum Therapeuten: Nach meinen Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit haben alle, die ich kennengelernt habe mit entweder der Diagnose bipolar oder einem Symptombild, das in diese Richtung geht, ähnliche innere Kämpfe zwischen unvereinbaren Polen, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Es sind immer Strukturen auf frühkindlicher Ebene, die dem bewussten Verstand direkt meist nicht richtig bewusst und zugänglich sind und die durch Willen auch nicht verändert werden können. Dazu braucht es therapeutisches Werkzeug, das die Tiefe der Psyche zu erreichen und „vor Ort“ zu verändern vermag. Kein Wunder, dass Achtsamkeit, soviel dürfte hier im Forum schon klargeworden sein, bei bipolarer Störung grundsätzlich hilfreich ist, sie übt jene Beobachterhaltung und jene mentale Fähigkeiten, welche diese Tiefenebenen sowohl erreichen als auch beruhigend beeinflussen können. Achtsamkeitspraxis ist somit eine günstige Voraussetzung für tiefgehende Psychotherapie, nicht aber schon die Therapie selbst. Für die braucht es Ansätze und Arbeitsweisen, die jenseits des Intellekts mit Verständnis für die Körperebene, Dissoziation, Bindung und prozedural verankerte Persönlichkeitsmuster arbeiten. Ich möchte hier beispielhaft nennen das „Modell der strukturellen Dissoziation“ (Buch: Das verfolgte Selbst), die Ego-State-Arbeit (Fritzsche, Praxis der Ego-State-Therapie), Somatic Experiencing (Levine, Sprache ohne Worte), Arbeit mit Entwicklungstrauma (Heller, Entwicklungstrauma heilen) in Verbindung mit Bindungsstörungen (Diane Poole Heller, leider kein aktuelles Buch; Daniel Siegel, bsp. Mindsight).

Natürlich heilt Bücherlesen gar nichts. Hier soll nur die Richtung angezeigt werden. Dazu braucht es eine/n Therapeuten/-in mit dem entsprechenden Fachverständnis, der menschlichen Tiefe und der Erfahrung, um diese Methoden und Modelle in ein lebendiges Beziehungs-Geschehen zu verwandeln. Es braucht weiter das Vertrauen des Patienten und eine langfristige, kontinuierliche Zusammenarbeit. Psychopharmaka beeinträchtigen genau jene integrativen geistigen Kräfte, die für eine tiefgreifende Veränderung gebraucht werden, so dass das notwendige Minimum an Medikamenten die Chancen auf tatsächliche Veränderung in einer guten Therapie verbessert. So habe ich etwa erlebt, dass es nicht schwer ist, eine bipolare Patientin wiederholt aus der Hypomanie wieder in eine stabile mittlere Seelenlage zurückzuführen, dass aber dieser positive Prozess unter Medikamenten nicht dauerhaft integriert wird, während umgekehrt bei anderen Personen mit wenig oder keinen Medikamenten eine wirkliche Veränderung im Seelenleben und eine dauerhafte Stabilisierung möglich war.

Somit ist meine Überzeugung und Erfahrung, dass die bipolare Störung ein psychologischer Zustand ist und psychotherapeutisch verändert, im besten Falle geheilt werden kann, wenn genügend gute Bedingungen zusammenkommen. Dies Statement möchte ich als mein „Abschiedsgeschenk“ hier hinterlassen, möge es dem einen oder der anderen Anregungen geben für einen Weg, der in ein besseres Leben führt. Damit möchte ich mich aus dem Forum verabschieden. Alles Gute für Euch.
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Abschied

einfindiger 1976 30. 06. 2013 11:38

Reisende soll man nicht aufhalten

Nil 717 30. 06. 2013 12:11

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Rhoda Nid 731 30. 06. 2013 14:46

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Roya 571 30. 06. 2013 16:51

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Isere 585 30. 06. 2013 17:25

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Blumenfee 591 30. 06. 2013 17:54

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zyklothym 489 01. 07. 2013 11:29

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Phineas 502 01. 07. 2013 14:19

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zyklothym 437 01. 07. 2013 14:29

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Roquentin 514 01. 07. 2013 13:03

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tschitta 440 01. 07. 2013 13:31

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Martina 462 01. 07. 2013 14:34



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