Kulturtipp für Kopfbrüchige

Sumosimi
28. 06. 2002 18:42
Meine lieben manisch-depressiven Freunde im Internet und Angehörige!

Jüngst suchte ich einen Bibliothek auf, um mir diverse empfohlene Schriften über den Zen-Buddhismus zu besorgen. Traditionell stattete ich auch dem Regal mit den Büchern über Manie und Depression, verschiedene Süchte und andere Stoffwechsel- und Kopfkrankheiten einen Besuch ab. Ich stieß auf zwei Werke, die ich jedem warm ans Herz empfehlen möchte, der keine all zu große Angst vor dem hat, was in einem außer Kontrolle geratenen Hirn geschehen kann.

Das eine handelt von Exzentrikern.
Die Autoren David Weeks und Jamie James führten eine Untersuchung mit Exzentrikern durch, die mit ihren Methoden am Anfang des Buches vorgestellt wird. Das klingt trocken, ist aber lustig geschrieben und mit vielen Einzelbeispielen, die allesamt sehr unterhaltsam und vergnüglich sind, anschaulich gemacht. Es geht dann um die Geschichte der Exzentriker, um ihre Psyche (die Autoren behaupten, die Exzentriker seien die glücklichsten Menschen gewesen, denen sie je begegneten), ihre Persönlichkeit, ihre Kindheit, ihre Gesundheit und so weiter und so fort.
Ich tippe nun eines der Beispiele ab, das mich besonders hoch erfreut hat:

//Al Joyner aus Virginia Beach, Virginia, fährt auf einem Vehikel durch die Stadt, das halb Fahrrad, halb Schaukelpferd ist. "Ein Fahrrad hatte ich schon" berichtete er, "nd eines Tages lag ich auf dem Sofa und sagte mir: ?Ich brauche ein Pferd.? Also kaufte ich für 15 Dollar ein Schaukelpferd, teilte es in der Mitte durch und montierte es auf das Fahrrad." Am Kopf, an den Flanken und an den Hinterhufen brachte er Rückstrahler an, am Lenker befestigte er ein Lasso, und um den Hals des Pferdes legte er eine Perlenschnur. Auf der einen Seite der Räder befinden sich Radkappen, die mit weiteren Rückstrahlern geschmückt sind, und an der anderen eine leuchtens-orangefarbene Zimbel, auf der "DISCO KID" steht. Einen auf ein Golfwägelchen montierten Milchflaschenkasten zieht Joyner hinter sich her.
Disco, wie er sein Pferd nennt, ist nicht nur der augenfällige Beweis für die Exzentrität seines Besitzers, sondern auch insgesamt ein kreatives Werk, weder Kunst noch Wissenschaft und nur für seinen Besitzer von Nutzen ? für die Kinder aus der Nachbarschaft aber ist es ein Quell großer Freude. Gleichwohl besitzt Disco eine erwähnenswerte Anziehungskraft, Joyner berichtete uns, dass die Leute ihn belagern, auch für sie ein solches Pferderad zu bauen. Bisweilen muss er sich verborgen halten, weil er so viele Anfragen von Leuten erhält, die ihn mit Disco fotografieren wollen.//

All meine Sauf&Kiff-Kumpels, die mein Bonanza-Rad lieben und ehren und es bisweilen auch mal "Ross" nennen, mussten über diese Passage sehr lachen ? ich könnte eine Millionärin sein, wenn ich von jedem, der mal eine Runde auf meinem Pony reiten darf, 1 ? verlangen würde.

Die Autoren des Buches haben auch 15 Punkte zusammen gestellt, die fast jeden Exzentriker charakterisieren:

- unangepaßt;
- kreativ;
- stark durch Neugier motiviert;
- idealistisch: mit dem Anspruch, die Welt zu verbessern und die Menschen in ihr glücklicher zu machen
- betreibt beglückt ein oder mehrere (in der Regel fünf oder sechs) Steckenpferde
- ist sich von klein auf des Andersseins bewußt;
- intelligent;
- eigensinnig und freimütig; überzeugt, selbst richtig zu liegen und dass der Rest der Welt aus dem tritt geraten ist;
- ohne Konkurrenzstreben, ohne Verlangen nach Anerkennung oder Bestätigung durch die Gesellschaft;
- ungewöhnliche Eßgewohnheiten und Lebensführung;
- nicht sonderlich interessiert an den Ansichten oder der Gesellschaft anderer, ausgenommen zu dem Zweck, diese vom eigenen ? richtigen ? Standpunkt zu überzeugen;
- ausgestatten mit einem schelmischen Sinn für Humor;
- alleinstehend;
- gewöhnlich das älteste oder einzige Kind und
- fehlerhafte [besser: eigentümliche, Anm. Sumosimi] Rechtschreibung

Der Autor des zweiten Buches heißt Ronald K. Siegel und ist Psychiater. Um sich besser in die Welt(en) von Paranoikern hineinversetzen zu können, bat er sie: Seien Sie meine Kamera, seien Sie mein Mikrofon, sehen, hören, fühlen Sie für mich. Nehmen Sie mich mit auf den Trip.
Er hat die Paranoiker begleitet und versucht, ihre Welten ernst zu nehmen. Dabei wanderte er oft auf einem schmalen Grat zwischen vorgestelltem und tatsächlichen Wahn. Für andere Untersuchungen hat Siegel auch Drogenexperimente am eigenen Leib durchgeführt, er hat sogar in seinem Labor Umgebungen nachgebaut, die den Erfahrungen von Leuten mit Halluzinationen entsprachen, um sich besser in sie einfühlen zu können.
In dem Buch hat Siegel mehrere interessante Einzelfälle versammelt, es ist glänzend unterhaltsam geschrieben und fasziniert auf ganz eigenartige Weise. Das witzige dabei ist, dass die Realitäten der Paranoiker wirklich beängstigende Züge tragen, von außen betrachtet scheinen ihre Theorien über Verfolgung und Überwachung jedoch meistens unglaublich blödsinnig und banal.
Eine Frau, die sich ?einbildet?, der Zahnarzt habe ihr einen Nanosender in einen Zahn gepflanzt, mit dem sie überwacht werden soll und über den sie bei Zahnarztbesuchen Stimmen flüstern hören kann, verfällt völlig diesem Irrglauben und steckt sogar ihre Freundin damit an. Nach langem hin und her legt sich Siegel selbst in den Zahnarztstuhl und betäubt sich mit Lachgas... der Fall ist klar: schwerhörig wie sie ist und auf Lachgas hatte die Frau beim Zahnarzt nicht die geringste Mühe, die Geräusche von Bohrer, Absauger etc. pp. als Flüstern aus ihren Zähnen wahrzunehmen
Ein anderes Kapitel beschäftigt sich mit den Käfern, die über Leute herfallen, die sich über einen langen Zeitraum hinweg das Näschen zu oft gepudert haben ? Kokain kann den langwierigen Entstehungsprozess einer Paranoia auf wenige Stunden verkürzen.
Hitler bekam ab 1936/37 regelmäßige Methamphetamin-Pillen und Injektionen, die ihn super-paranoid gemacht haben. Der Krieg wurde von einem Typen geführt, der permanent auf einer Droge war, die dem heutigen Speed gleich kommt. Das ist wirklich IRRSINN!

Seit zwei Tagen schmökere ich jede freie Minute in den beiden Wälzern, sogar beim Bier in der Kneipe.

Quellen:
David Weeks & Jamie James: Exzentriker. Über das Vergnügen, anders zu sein. 286 S. Rowohlt Verlag, Hamburg, 1997.

Ronald K. Siegel: Der Schatten in meinem Kopf. Geschichten aus der Welt des Wahnsinns. 369 S. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main, 1996.

Letzterer hat noch zwei Bücher verbrochen, die ich mir baldmöglichst besorgen will:
- Halluzinationen. Expedition in eine andere Wirklichkeit.
- Rauschdrogen. Sehnsucht nach dem künstlichen Paradies.
(Beide auch bei Eichborn)

Das war mein Kulturtipp der Woche.
Besten Dank für eure geschätzte Aufmerksamkeit

Her Majesty
Sumosimi
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Sumosimi 629 28. 06. 2002 18:42

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der-feind-seiner-selbst 204 28. 06. 2002 19:04

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Kerstin 188 02. 07. 2002 23:40

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Hannibal Lecter 259 02. 07. 2002 23:41



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