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Die Menschen, die ihn bisher so lieb gepflegt hatten, denen er vertraute, schnitten ihm die Äste ab, die der Sonne am nächsten waren. Er konnte nicht sprechen und deshalb nicht fragen. Er konnte nicht begreifen. Aber, sie sagten ja,
dass sie ihn lieb hätten und es gut mit ihm meinten. Und sie sagten, dass ein richtiger Baum grade wachsen müsse.
Und Gott es nicht gerne sähe, wenn er schief wachse. Also mußte es wohl stimmen.
Er wuchs nicht mehr der Sonne entgegen.
"Ist er nicht brav, unser Baum?", fragte der Gärtner seine Frau. "Sicher, lieber Mann", antwortete sie, "du hast wie immer
recht. Unser Baum ist ein braver Baum." Der Baum begann zu verstehen.
Wenn er machte, was ihm Spaß und Freude bereitete, dann war er anscheinend ein böser Baum. Er war nur lieb und brav, wenn er tat, was der Gärtner und seine Frau von ihm erwarteten. Also wuchs er jetzt strebsam in die Höhe, und gab darauf acht, nicht mehr schief zu wachsen.
"Sieh dir das an!", sagte der Gärtner zu seiner Frau, "unser Baum wächst unverschämt schnell in die Höhe. Gehört es sich, dass ein Baum macht was er will?" Seine Frau antwortete: "Aber nein, lieber Mann, das gehört sich natürlich nicht. Gott will, dass Bäume langsam und in Ruhe wachsen. Und auch unser Nachbar meint, dass Bäume bescheiden sein müßten. Seiner wachse auch schön langsam." Der Gärtner lobte seine Frau und sagte: "Du verstehst was von Bäumen." Und dann schickte
er sie, die Schere zu holen, um die Äste zu stutzen.
Sehr lange weinte der Baum in dieser Nacht.
Warum schnitt man ihm einfach die Äste ab, die dem Gärtner und seiner Frau nicht gefielen?
Und wer war dieser Gott, der angeblich gegen alles war, was Spaß machte?
"Schau her, Frau", sagte der Gärtner, "wir können stolz sein auf unseren Baum."
Und seine Frau gab ihm wie immer recht.
Der Baum wurde trotzig.
(Fortsetzung folgt ...)
2-mal bearbeitet. Zuletzt am 22.03.23 07:01.