Umgang mit dem "So-Sein" - ein längerer Prozess - Rückschau und "im Hier und Jetzt"

04. 04. 2021 23:04
Hallo,

angeregt durch einen anderen Baum, wollte ich die dort genannten zentralen Thesen zum Thema im Umgang mit der bipolaren Störung nochmal betrachten:

Quote
Aus dem Baum Vorstellung:

- Eine ewige „Rückschau“ ist kontraproduktiv.

- Unser aller Leben spielt sich immer nur im Hier & Jetzt! ab.

- Nur das Hier & Jetzt! ist wichtig und unterliegt unserer bedingten Kontrolle.

Es ist wichtig diese fundamentale Gegebenheit vollkommen zu akzeptieren.
Und es ist wichtig, sich selber verzeihen zu können.
Nur dadurch ist „Heilung“ – in unserem Fall „Linderung“ der phasischen Lebensweise möglich.
Um diese „Heilung“ zu bekommen ist ein Austausch auf Augenhöhe und ohne Vor- und Nach-Urteile nötig.


Quelle: [www.bipolar-forum.de]

Eine ewige Rückschau ist sicherlich kontraproduktiv, aber ich denke, dass eine gewisse Rückschau auch produktiv sein kann und zwar in bestimmten Aspekten:

Bewältigung der Trauerphase von nichterfüllten und nichtgelebten Wünschen und Vorstellungen

Die meisten Menschen haben Zukunftsvorstellungen, wie sie ihr Leben gestalten und wie sie sich einbringen wollen. Eine heftige psychische Krise (oder Krisen) kann all diese Vorstellungen durcheinander wirbeln und evtl. zeigen auch mehrere Versuche seinen Traum doch noch wieder aufzunehmen, dass es so in der Art nicht funktioniert.

Oftmals geht mit der Bewältigung einer solchen Krisensituation auch die Auseinandersetzung mit der Akzeptanz einher, dass sich eben das Leben doch ganz anders entwickelt, dass Grenzen und Einschränkungen da sind und sich somit viele Erwartungen leider nicht erfüllen. Gerade diese Akzeptanzphase ist ein längerer Prozess und ich denke dass dort auch gerade diese Trauerphase des nichtgelebten Lebens, bzw. des Loslassens (wenn es sich denn tatsächlich nicht anders erfüllen lässt) eine wichtige Rolle spielen.

Anerkennung dessen, was einem zugestoßen ist

Ich weiß noch, wie befreiend es für mich war und wie ich mich das erste Mal so richtig verstanden fühlte, als ein Therapeut mir sagte, dass ich über das, was mir widerfahren war durchaus traurig und auch wütend sein darf. Und wie oft höre ich auch von anderen, die mir sagten, dass ihnen früher (als Kind, Jugendliche, junge Erwachsene) ihre Wahrnehmung, Gefühle, Schmerz abgesprochen wurde und wie schwer es ist, damit alleine fertig zu werden.

Da kann es durchaus gut sein, dass einmal dafür Zeit eingeräumt wird, wenn es für den Betroffenen eine eigene Wichtigkeit hat, dass hierüber gesprochen werden darf (hier ist allerdings jetzt nicht aufdeckende Traumaarbeit gemeint, die nochmal ein ganz anderes Thema betrifft).

Wenn etwas Schei... war, dann sollte man es einfach auch mal so benennen dürfen.

Aufdecken von Leitsätzen und Infragestellen dieser

Wir kennen einige Leitsätze oder Gedanken, die uns früher "eingetrichtert" wurden und die wir oftmals ohne zu hinterfragen übernommen haben und meinen, danach leben zu müssen wie: "Indianer kennen keinen Schmerz", "Was uns nicht umbringt macht uns nur härter" etc. pp.

Diese Leitgedanken können eben genau dazu führen, dass wir über unsere Grenzen hinweg leben und nicht Achtsam mit uns umgehen und dann Phasen oder Krisen sogar begünstigen können. Solche Gedanken oder Haltungen aufzuspüren, sie zu hinterfragen können eine wichtige Hilfe sein, um besser stabil bleiben zu können.

Bedeutung und Kontext

Nicht nur die Rückschau auf das frühere Leben, sondern auch auf die Krise kann positiv sein, wenn man versucht diese Krise irgendwie einzuordnen und in einen wie auch immer gearteten Kontext zu setzen.

Aus Krisen kann man Rückschlüsse ziehen, zum Beispiel, ob es gewisse Themen gab, welche Auslöser es evtl. gegeben hatte etc. pp. All diese Rückschlüsse kann man auch für seine Prophylaxe heranziehen, um besser mit einer aufkommenden Phase umgehen zu können.



Aber richtig ist auch, dass die ewige Rückschau nach dem Motto: "Mein Leben war so sch..., deshalb bin ich so" auch nicht weiter hilft. Vor allem tritt man dann auf der Stelle. Die Vergangenheit kann nicht rückgängig gemacht werden.

Irgendwann braucht es den Schritt der Akzeptanz. Ja, es war so, jetzt versuche ich mich damit ein wenig zu versöhnen und den Blick ins "Hier und Jetzt" zu richten. Da gibt es soviel Arbeit, um sein Leben wieder auf die Füße zu stellen.

Positive Identität aufbauen

Als ich anfing mich mehr und mehr mit mir und meinen Diagnosen auseinander zu setzen, verengte sich meine Identität zunächst, sie reduzierte sich auf die Diagnosen. Dadurch war mein Blick auf das "Hier und Jetzt", bzw. Zukunft recht eingeschränkt und nicht rosig.

Erst als ich im Prozess weiter fortschritt, erkannte ich, dass die Phasen einen Teil von mir aus machen, aber Ich eben mehr bin als dieser Teil. Dadurch weitete sich mein Blick wieder und machte es auch einfacher mich mit der Akzeptanz in gewisser Weise "anzufreunden".

Ich bin Heike, habe verschiedene Facetten und Ressourcen, aber auch ab und zu meine Phasen.

Soziales Netzwerk und verschiedene Rollen

Das soziale Netzwerk ist ein wichtiger Faktor, um sich selbst zu verorten, sich immer wieder reflektieren zu können, um Halt zu finden, aber auch um sich in anderen Rollen als nur die "Hilfsbedürftige" kennen zu lernen.

Sie sind ebenso wichtige äußere Ressourcen, die genutzt werden können und da schließe ich Selbsthilfe und professionelle Hilfe natürlich mit ein.

Bedeutung und Sinn

Ich persönlich gehe davon aus, dass wir Menschen etwas brauchen, was uns irgendwie das Gefühl des "Sinns" gibt. Einige ziehen diesen unteranderem aus spirituellen Betrachtungen, aber viele auch über ganz andere Wege, Liebe zum Partner/in, Kinder, die Natur, einer Aufgabe nachgehen, sich gebraucht und wertgeschätzt fühlen etc. pp.



Ich denke, es gibt noch viele andere Aspekte und Sichtweisen, sich ein Leben aufzubauen, mit für sich gefühlter größtmöglicher Zufriedenheit.

Jedoch ist mir klar, dass diese Betrachtungen innerhalb einer Phase, gerade auch depressiven Phase, einem sehr "hohl" vorkommen können und schwer zu fassen, bzw. unerreichbar scheinen.

Viele Grüße Heike

------------------ Signatur --------------------------

Ich bin ein Mensch mit vielen Farben und Facetten zeitweise unterbrochen durch unipolar depressiven Phasen, im MD-Forum schon seit 2002 vertreten.

"Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ›geheilt‹ oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können" (Patricia Deegan 1996).



1-mal bearbeitet. Zuletzt am 04.04.21 23:18.
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Umgang mit dem "So-Sein" - ein längerer Prozess - Rückschau und "im Hier und Jetzt"

Heike 3102 04. 04. 2021 23:04

Re: Umgang mit dem "So-Sein" - ein längerer Prozess - Rückschau und "im Hier und Jetzt"

dino 436 07. 04. 2021 10:58

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Heike 381 07. 04. 2021 21:01

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Mania67 388 08. 04. 2021 12:00

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Heike 374 08. 04. 2021 14:29

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Mania67 458 08. 04. 2021 16:41

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Heike 451 09. 04. 2021 11:57

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Mania67 431 09. 04. 2021 12:28

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Heike 423 10. 04. 2021 12:08

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Mania67 1333 10. 04. 2021 13:11

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Milla 445 09. 04. 2021 08:02

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Heike 1433 09. 04. 2021 12:11

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Milla 506 09. 04. 2021 13:16



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