Wie es ist, Gott zu befreien
Ich frage mich, was du denkst, Gott.
Über die Kirche, die ja irgendwie dein Haus sein soll, überall auf der Welt.
Und zuhause, da will man sich doch wohlfühlen.
Ich besuche dich regelmäßig. Egal ob italienisches Bergkloser oder der Dom in Oslo:
Ich schaue mal kurz rein. Ob offen ist, ob du da bist und wie es aussieht bei dir.
Meistens zünde ich eine Kerze an, das finde ich ganz schön, weil ich mir vorstelle,
dass du dann nicht so allein zurückbleibst, wenn ich wieder gehe.
Manchmal sieht es schön aus bei dir. Licht und leicht. Oder dämmrig und innig. Aber oft ist es anders. Dann ist es steril oder, schlimmer noch, ein bisschen vernachlässigt. Du weißt, Bilder an den Wänden, die schon lange keiner mehr ansieht und in der Ecke ein verstaubter Gummibaum. Kein Leben drin. Mich deprimiert das. Ich gehe dann und selten komme ich sonntags wieder.
Denn sonntags will ich nicht depressiv sein. Ich will eine Kaffeetafel, da soll Butterkuchen auf den Tisch kommen und alle sind da und reden und lachen und die Woche ist weit weg. Aber so fühlt es sich nicht an. Und ich rede jetzt nicht von den seltenen Or-
ten, in denen alles ganz anders ist. Ich rede von der "guten Stube", in die ich an solchen Sonntagen kommen soll und in der
es sich immer irgendwie steif und falsch anfühlt, weil das Leben doch eigentlich in der Küche stattfindet.
Bei meinen Großeltern gab es auch eine gute Stube. Die Uhr tickte zu laut und immer wenn wir dort saßen, war ich befangen. Ich schielte, ob meine Fingelnägel sauber waren, räusperte mich unbehaglich und fühlte mich am falschen Ort.
Ich glaube einfach nicht, dass du solche Stuben magst, Gott.
Warum solltest du?
Ich glaube nicht, dass du es magst, auf harten Bänken zu sitzen, einer hinter dem anderen.
Ich glaube nicht, dass dein Musikgeschmack vor 300 Jahren einfach stehengeblieben ist.
Ich will auch nicht mehr hören, was ich mit 16 gehört habe.
Man entwickelt sich ja weiter - und du doch auch, oder?
Vielleicht müssen wir dich retten, müssen die gute Stube entern und das Biedermeier rausschmeißen, die Fenster aufreißen
und das Leben reinlassen! Du brauchst nichts vorzubereiten, wir kommen einfach. Wir bringen mit, was wir haben, wir singen unsere Lieder, die auch nach 2000 Jahren noch von Sehnsucht erzählen, aber andere Namen haben für dich. Wir wollen dich - und wir wollen dich als einen von uns. Du sollst lebendiger sein als dein Abbild an der Wand.
Ich glaube, das willst du auch.
... ... ...
aus "Mut ist Kaffetrinken mit der Angst" von Susanne Niemeyer
Anmerkung von mir:
Wenn die Welt nicht gerade kopfsteht, wie jetzt in Corona-Zeiten, "entert" Frau Niemeyer mit Gleichgesinnten eine gute Stube und sie tragen ein Sofa in ein Gotteshaus in HH, feiern singend und Gitarre spielend Gott zu ehren.