Gott trifft eine Entscheidung
und die Engel halten den Atem an.
Gott sitzt auf einem Stein und schaut den Menschen zu.
Gott schaut oft.
"Was in ihnen wohl vorgeht?" fragt er den Engel, der am nächsten steht. Einer ist immer da.
"Verschiedenes", sagt der Engel. Er ist ein bißchen maulfaul. Wahrscheinlich denkt er, dass Gott nicht alles wissen muss.
"Aber was?", fragt Gott. Der Engel hätte damit rechnen müssen, dass Gott nicht lockerlässt.
Er sagt also: "Manche sind gerade verliebt. Anderen ist es langweilig. Da gibt es welche, die wütend sind, von denen einige
gar nicht wissen, dass sie wütend sind. Es ist kompliziert. Manche sind auch traurig. Während andere sich freuen. Über eine Bockwurst mit Kartoffelsalat oder dass dasselbe Lied im Radio gespielt wird wie bei ihrem ersten Kuss."
Gott schweigt eine Weile.
Dann fragt er: "Wie fühlt sich das an?"
"Was?"
"Alles."
Der Engel überlegt.
"Es fühlt sich unterschiedlich an. Wie ein Strudel im Bauch fühlt es sich an, wenn man verliebt ist. Wie ein Stein auf der Brust, wenn man traurig ist. Es kann sich aber auch wie eine Nebelwand anfühlen. Je nachdem. Manchmal fühlt man alles auf einmal. Die Menschen sind komplex. Aber das weißt du ja."
"Sie sind so weit weg", murmelt Gott, obwohl das nicht stimmt, denn er kann sie ja sehen.
Zum Beispiel den Mann mit der Wut im Bauch. Nur die Wut, die sieht er nicht.
"Ich will fühlen, was sie fühlen", sagt Gott und der Engel erschrickt.
"Das willst du nicht", sagt er. "Damit lieferst du dich aus. Gefühle sind unberechenbar.
Zum Beispiel kann es schrecklich weh tun, verliebt zu sein."
"Aber auch schön, oder?"
"Auch schön", nickt der Engel.
Gott überlegt.
Dann hat er sich entschieden. "Ich will das auch."
"Das geht nicht", sagt der Engel.
"Nein, das geht wirklich nicht!" Ein zweiter Engel ist dazu gekommen.
"Du bist Gott. Gott ist erhaben über alle Dinge."
"Aber ich will."
"Dann musst du Mensch werden. Du wirst lieben, wie sie lieben, und weinen, wie sie weinen, du wirst lachen, wie sie lachen,
du wirst wütend sein, du wirst dich einsam fühlen, du wirst an dir zweifeln. Und du wirst sterben."
Eine Lerche verstummt.
Der Wind schweigt.
Die Engel halten den Atem an.
"Ich will", sagt Gott und dann geht er und wird Mensch.
... ... ...
aus "Mut ist ... Kaffeetrinken mit der Angst" von Susanne Niemeyer