Moin liebe Foris,
heute ist ein neuer Tag
24 Stunden sind überschaubar.
Derzeit haben Engel ihren Großeinsatz - die unzähligen Engel in Menschengestalt und auch die unsichtbaren Engel,
die uns Menschen zur Seite stehen.
Für heute habe ich eine Geschichte ausgesucht, von einem Engel, der eine Narbe hat (und nicht nur eine).
Der Engel ist ramponiert, als ich ihn treffe. Sein Haar ist angesengt. Über seine Wange zieht sich eine leuchtende Narbe. Sein Kleid ist zerrissen und seine Füße sind schmutzig. Er wirkt erschöpft. Aber er lächelt. Was für ein Engel, denke ich und frage, woher er kommt. In den Gasöfen sei er gewesen, sagt er. Auf den Scheiterhaufen, in den Kerkern und Folterkammern.
Im Bombenhagel, hinabgestiegen in das Reich des Todes. Er setzt sich. "Entschuldige", sagt er. "Ich bin müde". Ehrfurchtsvoll mache ich ihm Platz. "Wie wird man so ein Engel?" "Man wird geschickt", antwortet er, "wie alle Engel. Man fragt nicht".
Nicht alle habe er retten können. "Wenige", setzt er hinterher, "zu wenige".
Ob ihn das nicht resignieren lasse, frage ich. "Nein", sagt er. "Nein".
Er verstehe nicht, wer des Wunders würdig ist und verschont bleibe. Er hat aufgegeben, danach zu fragen, mehr noch,
er hat die Frage vergessen. Bis eben, da ich sie wieder aufbrachte. "Die Menschen wollen Rettungsgeschichten", sagt er. "Wenn Gott rettet, wollen sie glauben. Einmal reicht nicht. Gott muss immer retten. Gott muss zuverlässig immer alle retten.
Wie eine Maschine."
Jetzt wirkt er doch resigniert, und ich begehre auf, dass das doch ein gerechtfertigter Wunsch sei.
Wozu ein Gott, wenn er nicht rettet? Gott kennt kein "Wozu", sagt er und ich bin erschüttert.
"Dann ist Gott sinnlos?", frage ich. "Nein, zwecklos", sagt er.
Ich schaudere. "Aber die Bibel", stammele ich. "All die Geschichten vom Wenn und Dann.
'Wenn du glaubst, wird Gott dich erretten' 'Wenn du Buße tust, gehört dir das Himmelreich'.
"Was ist damit?"
Der Engel wirkt jetzt noch müder. "Menschenlogik", sagt er. "Versuche, Gott als Handelspartner zu verdingen.
Verträge abzuschließen. Garantien zu erwirken." "Aber was bleibt?", rufe ich erschüttert.
"Freiheit", sagt der Engel. Wir lauschen dem Wort hinterher.
"Höre", sagt der Engel. "Einmal traf ich drei Menschen. Ihre Namen vergaß ich, sie wechselten im Lauf der Jahrtausende
ihre Gestalt und ihr Gesicht." "Also geschah sie nicht wirklich, die Geschichte, die du erzählst?"
Im Gegenteil, sie geschah wieder und wieder. Sie wird wieder geschehen: Es lebte ein Herrscher, machtbesessen und grausam. Er wollte angebetet sein. Jedes Knie sollte sich vor ihm beugen, jeder Mund sollte sein Loblied singen. Er hatte sein eigenes Standbild errichtet, dass jederzeit von seiner Herrlichkeit künden sollte. Golden war es und himmelhoch. Die drei, von denen ich erzählen will, weigerten sich. Sie sagten: Niemanden würden sie anbeten ausser Gott. Jemand verriet sie, so wie es immer einen gibt, der denunziert. Der Herrscher wurde zornig, als er das hörte. Er ließ die drei holen. Er beschloss, ihnen eine letzt Chance zu geben. Wenn sie jetzt niederfielen, würde er Milde walten lassen. Andernfalls würden sie bei lebendigem Leib verbrennen. Welcher Gott sie dann wohl retten könne, höhnte er. Aber er beeindruckte sie nicht. >Wir haben es nicht nötig<, antworteten sie, >dir darauf zu antworten, dass Gott uns retten wird. Und wenn nicht, fügten sie hinzu, würden sie ihn trotzdem nicht verehren.
Und dann tat der eine, als sei er mit seinen Fingernägeln beschäftigt, unter denen sich Schmutz fand und die anderen sahen dem Flug eines Mauerseglers hinterher. Als sei dies alles ein völlig belangloser Vorgang.
Verstehst du, welch ungeheure Freiheit darin lag? Sie verzichteten darauf, sich auf das Spiel einzulassen. Sie benutzten Gott nicht als Ersatz. Sie forderten Gott nicht heraus, seine Macht zu zeigen. Sie sagten von vornherein: >Wir werden trotzdem an dich glauben. Unabhängig von allem, was geschieht.<"
"Aber warum?", rufe ich abermals. "Warum dann überhaupt glauben, wenn es keine Rolle spielt, ob Gott eingreift?"
"Aus Liebe".
Atemlos verstumme ich. Die Augen des Engels leuchten.
"Verstehst du: Sie verweigern sich der Abhängigkeit. Sie verweigern sich dem Spiel."
Aber es ist kein Spiel", rufe ich. "Sie werden sterben!"
"Ihre Freiheit wird leben ."
Ich schaudere.
"Was geschah?"
"Sie wurden ins Feuer geworfen. Es war so heiß, dass die Schergen, die sie hineinwarfen, selber starben. Niemand hätte in diesem Feuer überleben können. Aber sie gingen in den Flammen umher, als könnten sie ihnen nichts anhaben. Man erzählt sogar, sie sangen im Feuer. Ich stieg zu ihnen hinab."
"Aber warum", rufe ich "zogst du sie nicht hinaus?"
Er schweigt. Möglich, dass es Unvermögen war.
Möglich, dass er sein Unvermögen bedauert.
"Ich stieg zu ihnen hinab", wiederholte er. "Ich blieb mit ihnen zusammen."
"Überlebten sie?", wage ich zu fragen. Ich halte den Atem an.
"Sie überlebten", sagt er. "Das Wunder geschah.
Andere überlebten nicht. Aber ich blieb mit ihnen zusammen. Mit allen. Keinen von ihnen verließ ich."
Dann schweigt er, als sei damit alls gesagt.
(aus "Fliegen lernen" von Susanne Niemeyer).
Viele Grüße
Deborah
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Wer etwas will, sucht Wege.
Wer etwas nicht will, sucht Gründe.
Lerne erst laufen,
bevor du versuchst zu rennen.
("zeitzuleben", Ralf Senftleben)
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1-mal bearbeitet. Zuletzt am 26.03.20 03:36.