Heute ist ein neuer Tag!
Der Engel, der das Licht anzündet
Es schneit seit sieben Stunden.
Die Dächer des Dorfes haben dicke Mützen bekommen und die Wiesen eine weiße Decke. Gerda sieht hinaus.
Sie mochte den Schnee immer. Neunundachtzig Winter hat sie diesen Blick geliebt: Die Wiese und der Bach,
darüber die Brücke, auf der manchmal die Rotkehlchen spielen.
In diesem Jahr ist alles anders. Die Kinder werden gleich da sein, und es wäre längst Zeit, den Waffenteig zu rühren.
Aber Gerda rührt sich nicht. Die Uhr tickt. Die Küche ist so leer ohne Emil. Alles ist so leer ohne ihn. Gerda seufzt.
Die Tür geht, sie hört Stiefelgetrappel im Flur und dann steht Anneke in der Küche.
Mit Manuel, der jetzt auch schon eine Freundin hat. Sie heißt Marie.
"Ach Mutti", sagt Anneke, weil ihr nichts Besseres einfällt, als sie Gerda sieht.
"Muss ja weitergehen. Schau, ich hab Bienenstich mitgebracht."
Dann schiebt sie alle in die Stube und setzt den Kaffee auf.
Manuel war immer gern bei seinen Großeltern. Jetzt hält er es in dem stickigen Wohnzimmer kaum aus. Oma sagt fast nichts
und wenn, dann klingt es, als spräche sie unter Wasser. Nach dem zweiten Stück Kuchen stielt er sich hinaus. Unschlüssig
steht er im Bad und wäscht sich die Hände, dann öffnet er leise die Haustür. Erleichtert atmet er die kalte Luft.
Es hat aufgehört zu schneien und er geht rüber zum Schuppen. Die Tür ist wie immer nicht abgeschlossen. Er schlüpft hinein. Sofort umgibt ihn Opas Geruch. Pfeife und Terpentin. Der Hammer hängt da, als würde er gleich zurückkommen. Manuel lässt sich auf den Hocker fallen. Auf dem Tisch liegt eine tote Fliege. Er schnippt sie auf den Boden. Da sieht er den Umschlag. Und den Zettel. Manuel zieht beides zu sich heran. "Für meine Gerda eine Lichtbrücke" steht dort in Opas akkurater Schrift.
Darunter liegt eine Skizze. Merkwürdig, denkt Manuel. Was ist das?
Die Tür knarrt. "Hier steckst du ..." Marie kommt hinein und pustet warme Luft in ihre Hände. Manuel mag das. Sie beugt sich über ihn. "Was hast du da?" Manuel zuckt mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Mein Opa muss das gezeichnet haben."
"Sieht aus wie eine Brücke". Tatsächlich, denkt Manuel. Es könnte die Brücke vorm Haus sein, über die Opa jeden Abend heimgekommen ist. Als kleiner Junge hat er mit Oma immer Ausschau nach ihm gehalten. >Erst kommt der Hase nach Hause<, hat Oma immer erzählt. >Dann das Rotkehlchen. Und zum Schluss kommt der Opa.<
"Was sich hier alles angesammelt hat ...", staunt Marie. "So viele Schrauben, Blechdosen, Marmeladengläser - und schau,
eine ganze Kiste voller Kerzenstummel." Manuel nickt und murmelt: "Die Lichter eines ganzen Lebens".
Als die beiden zurück ins Haus gehen, läuft ihnen die Mutter entgegen. "Da seid ihr ja! Ihr könnt mich doch nicht einfach
mit der Oma alleinlassen! Sie ist so bockig. Jetzt redet sie gar nicht mehr. Ich mache mir solche Sorgen. Sie hat sich einfach hingelegt und weigert sich, aufzustehen. Wir können doch nicht nach Hause fahren und sie so liegen lassen!"
Manuel setzt sich auf Opas Stuhl. Aber Oma sieht ihn nicht mal an. Wenn wir nur etwas tun könnten, denkt er.
Aber ihm fällt auch nichts ein. Es beginnt langsam dunkel zu werden.
"Die Kerzen", flüstert Marie. "Man müsste einfach all die Kerzenstümmel anzünden ..."
Natürlich!, denkt Manuel. Die Lichtbrücke. Plötzlich weiß er, was zu tun ist.
Was Opa getan hätte.
Er zieht Marie mit sich in den Schuppen. "Hier, nimm die Kerzen, ich nehme die Kiste mit den Marmeladengläsern!"
Dann gehen sie zum Bach. An der Brücke erklärt Manuel Marie, was sie machen soll und läuft zurück.
"Kommt", sagt er, "kommt alle ans Fenster!" Oma schüttelt den Kopf. "Tu es für mich", bittet Manuel und weil Manuel,
wenn er lächelt, ein bisschen wie Opa aussieht, steht Gerda tatsächlich auf. Dem Jungen zuliebe.
Zusammen stellen sie sich ans Fenster. Gerda blickt hinaus ins Dunkel. Da sieht sie das Licht.
Erst eins. Ein zweites, dann ein drittes, immer mehr Lichter flackern in der Nacht, bis die ganze Brücke strahlt.
"Hier." Manuel hält Oma den Brief entgegen. "Von Opa. Der lag im Schuppen." Gerda nimmt den Umschlag. Ihre Hände zittern, als sie ihn öffnet. Sie liest: "Für das Licht meines Lebens. Damit du es nie vergisst: Weder Tod noch Dunkelheit können uns trennen ..."
Gerda holt ihr Taschentuch raus, schnäuzt sich die Nase und wischt sich die Augen. Dann blinzelt sie. Erst glaubt sie nicht, was sie sieht: Über die Brücke kommen Leute. Sie erkennt die Nachbarn und Helge, den Bäcker und selbst Tante Irma vom anderen Ende des Dorfs. "Gerda!", rufen sie, "wir haben das Licht gesehen! Was für eine wunderbare Idee!" Und plötzlich merkt Gerda, dass sie lächelt. Nein - sie strahlt, sie strahlt ihnen allen entgegen. "Kommt", sagt sie zu Anneke und Manuel, "jetzt wird es aber Zeit, den Waffelteig zu rühren!"
(... aus "Fliegen lernen" von Susanne Niemeyer)