Hallo soulvision,
nun zum letzten Punkt, meines theoretischen Ansatzes:
Natürlich hat jeder seine subjektive Sicht, auch in einem stabil anzusehenden Zustand. Und so gibt es auch da verschiedene Realitäten, doch immer auch irgendwo einen generellen Konsens durch die eigene Sozialisation, Kultur etc., worauf man sich einigen kann.
Doch wenn die subjektiven Realitäten so extrem auseinander driften, wird es schwierig, gerade in überlappenden Lebensbereichen, wo Verhalten und Kommunikation auch andere Menschen mit einbezieht und betrifft und somit ggf. deren eigenen Grenzen überschreiten.
Wo oder wie kann man eine gemeinsame "Realität" schaffen, die, wie du schriebst, Sicherheit und ggf. auch Orientierung schafft. Irgendwo las ich von einer Psychose-Erfahrenen, dass ihr das z.B. beim gemeinsamen Kartoffelschälen gelang, also bei einer Alltäglichkeit, wo sie sich dann in einer gemeinsam empfundenen Realität wieder fand, für diese kurze Zeitspanne.
Ich selbst kann mich auch noch erinnern, dass ich mich zwar fremd fühlte in der Welt, weil sie nicht meine Denke und mein Empfinden teiltem und es mich wütend machte, wenn sie mich vom Anderen überzeugen wollten, so als würden sie mich einfach nicht ernst nehmen. Aber wenn es darum ging, etwas Alltägliches gemeinsam auszuführen, war da manchmal für eine kurze Zeitspanne eine Gemeinsamkeit, auch wenn es von mir nicht tief empfunden werden konnte.
Auch wenn man die andere Denke oder die andere Wahrnehmung nicht teilt, kann es vielleicht helfen, diese erst mal als eine weitere Möglichkeit zu respektieren. Eben über dieses "Aufmachen" ist dann Kommunikation möglich. Vielleicht kann über diesen Kanal dann auch die Möglichkeit bestehen, dass der andere seine eigene Wahrnehmung angstfrei überprüfen kann, denn jetzt ist der Schutzdamm für die eigene Identität nicht notwendig?
Aber diese Art des Respektierens ist nicht immer so ganz einfach, gerade wenn man ggf. auch die Gefahren (Verschulden, soziale Isolation, Arbeitsplatzverlust, Zerbrechen von Partner-/Freundschaften) solcher Wahrnehmungen sieht. Oder wenn die Wahrnehmungen zum Verhalten führt, welches für andere Grenzüberschreitend ist.
Ja, die Zeit der Entwicklung im Kindesalter ist sehr störanfällig und sehr viele Menschen, die heute psychiatrisch behandelt werden, haben oft traumatische Erlebnisse hinter sich. Da kann es für das Kind ein wichtiger Schutz für die eigene Identität gewesen sein, sich aus der "Realität", die manchmal so extrem war, zu verabschieden und in eine andere hineinzu gehen. Wenn man dies so betrachtet, wieder meine subjektive theoretische Erklärung, ist die Flucht in eine andere Realität durchaus auch eine Möglichkeit des Gehirns, sich zu schützen um den Kern seiner selbst bewahren zu können. Nur im Erwachsenen-Alter, wird es problematisch.
Viele Grüße Heike
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Ich bin ein Mensch mit vielen Farben und Facetten zeitweise unterbrochen durch unipolar depressiven Phasen, im MD-Forum schon seit 2002 vertreten.
"Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ›geheilt‹ oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können" (Patricia Deegan 1996).
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 01.03.20 20:52.