Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

30. 03. 2018 01:27
Hallo,

vor meiner Erfahrung mit der Depression und vor allem der Erfahrung mit dem psychiatrischen System, hatte ich kaum Berührungspunkte mit anderen Menschen, die in diesem Bereich schon erfahren waren.

So ist mir heute klar, warum ich mich damals so schwer tat, professionelle Hilfe aufzusuchen. Das stigmatisierende Gedankengut steckte auch in mir und ich wollte kein "Psycho" sein. Und als mir dann klar wurde, was ich habe und ich bemerkte, dass dies etwas war, was ich eben nicht so schnell wieder los werde, wie vielleicht 3 Wochen Grippe, setzte die Selbststigmatisierung dann entgültig ein.

"Das bin ich also", "So ist ein ... ", "Das Ende der Fahnenstange", "Von mir ist nicht mehr viel zu erwarten" etc. pp. In einer Depression also genau das Richtige, was ein Depressions-Ego so braucht, um in der Destruktivität voll und ganz aufzublühen.

Aber selbst wenn es mir besser ging, konnte ich die Selbststigmatisierung nicht ablegen. Es hat leider sehr lange gedauert, bis ich erkannte, dass gerade diese Stigmatisierung ein riesiger Brocken auf meinem Genesungsweg war, der mir viele Möglichkeiten nahm, bzw. dahinter gar nicht sichtbar wurden.

Hinzu kam aber auch die Trauer um das, was ich verloren geglaubt habe. Der Schock um die vielen verlorenen Jahre. Den Verlust meiner damals wirklich geliebten Arbeit etc. pp. Mir war das aber gar nicht bewusst, dass ich in einer Trauer oder in einem Schock noch festsaß.

Ich glaube, auch das braucht seine Zeit.

Nun habe ich keine Manie-Erfahrungen, doch kann ich mir gut vorstellen, was es für ein Schock bedeutet, wenn einem Menschen klar wird, zu was er im Stande ist, was er in solchen Zuständen dann "anstellt". Wäre ich in solch einer Lage, würde ich wahrscheinlich auch in Scham vergehen wollen, oder es am liebsten verdrängen, lieber nicht bewusst werden lassen, etc. pp.

In einer Depression würde mir diese Erfahrung wohl ggf. auch zur noch stärkeren Destruktivität gereichen. Mich verurteilen und der Selbststigmatisierung noch eines drauf setzen. Mir würde in dieser Phase wohl auch nicht bewusst sein, was ich mir selbst am Meisten, aber auch vielen anderen, die diese Diagnose haben, damit antue.

Obwohl mir damals der Therapeut Möglichkeiten zur Trauerarbeit gegeben hatte, hatte ich diese erst in meiner EX-IN-Ausbildung wirklich vollbracht. Durch das Gewahr werden, wie es mir mit der Diagnose ergangen ist, was ich für eine Erfahrung gemacht hatte, wie das alles auf mich gewirkt hatte, konnte ich letztlich danach viel versöhnlicher damit umgehen.

Es bedeutet nicht, dass ich nicht manchmal wieder in alte Denk- und Strukturweisen verfalle, gerade in einer depressiven Phase, aber durch die Bewusstmachung, komme ich mir schneller auf die Schliche. Ich nehme es mir nicht übel, es gehört eben immer auch dazu, dass ich Zweifle und manchmal auch Verzweifle.

Doch mit dem Ablegen meiner Selbststigmatisierung hat sich auch in mir etwas verändert und auch der Krankheitsverlauf ist anders geworden. Aber das ist ein langer Prozess, in dem ich immer noch mitten drin stecke.

Ich denke, wer immer noch in diesem Schockzustand, der Trauer und der Selbststigmatisierung drin steckt, braucht eben auch Empathie und Hilfe. Es bedeutet aber auch, für die Anderen, Geduld zu haben, weil dass etwas ist, was man eben nicht mal so schnell hinter sich lassen kann. Diese Geduld wird wohl auf beiden Seiten immer mal wieder auf die Probe gestellt.

So das war das Wort zum Karfreitag ;-).

Viele Grüße Heike

------------------ Signatur --------------------------

Ich bin ein Mensch mit vielen Farben und Facetten zeitweise unterbrochen durch unipolar depressiven Phasen, im MD-Forum schon seit 2002 vertreten.

"Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ›geheilt‹ oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können" (Patricia Deegan 1996).
Thema Autor Klicks Datum/Zeit

Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Heike 1626 30. 03. 2018 01:27

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Irma 481 30. 03. 2018 12:45

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Diesel 443 30. 03. 2018 13:29

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Heike 403 30. 03. 2018 14:27

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Heike 387 30. 03. 2018 14:18

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

tschitta 391 01. 04. 2018 20:57

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Diesel 351 01. 04. 2018 21:13

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Lea-Tabea 470 31. 03. 2018 17:03

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Heike 394 31. 03. 2018 18:06

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Lea-Tabea 379 31. 03. 2018 21:42

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Deborah 415 01. 04. 2018 06:06

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

Heike 399 01. 04. 2018 20:27

Re: Schock, Trauer, Selbststigmatisierung

tschitta 352 01. 04. 2018 20:38

@ Heike

Deborah 513 01. 04. 2018 22:44



In diesem Forum dürfen leider nur registrierte Teilnehmer schreiben.

Klicken Sie hier, um sich einzuloggen