Liebe Forumsteilnehmer, Arbeit, ja oder nein?
Ich zum Beispiel arbeite in Vollzeit und habe noch einen langen Fahrtweg von täglich bis zu 3 Stunden, die ich frierend auf kalten Bahnsteigen verbringe.
Trotzdem mag ich meine Arbeit. Nirgendwo kann ich so gut meine destruktiven Gedanken in Schach halten, es ist einfach kein Raum vorhanden, in den ich hineinwimmern kann und meine traurigen Fäden spinnen.
Meine Kollegen sind nett, manche sogar richtig lieb, auf alle Fälle dienen sie mir auch als Regulativ.
Ein Tag im Monat ist meinem Therapeuten gewidmet, es steht nur "Arztbesuch" in der Agenda, das ist sozusagen mein heiliger Gral.
Wahnsinn, ich bekomme auch noch Tagesstruktur geliefert, quasi frei Haus, und jeden Monat fließt ein hübsches Sümmchen auf mein Konto.
Manchmal möchte ich meinem Chef gerne persönlich mit Handschlag danken, wenn ich nicht wüsste, wie sehr er von mir profitiert. Ich bin ja nur symptomfrei, nicht "geheilt" (wovon eigentlich?)
Klar ist Bipolarität eine Erkrankung, aber auch so viel mehr, ein Schicksal, eine lebenslange Aufgabe, ein Leiden am Dasein.....das ist jetzt zu komplex und wäre ein neues Thema.
Wir übertreiben ja gerne mal in jeder Hinsicht, aber dank Medikation in einem "vernünftigen" Rahmen.
Für die Arbeitswelt sind wir auf alle Fälle ein Segen.
Wir arbeiten, bis wir zusammenbrechen, bei jeder Kritik zerfleischen wir uns, lieber schmeissen wir den Job hin, als dass wir Überforderung eingestehen und ansprechen.Wir schämen uns, dass wir nicht der Norm entsprechen.
Wir sind für uns selbst die härtesten Kritiker, wir geben alles für einen Funken Anerkennung und sind doch niemals mit uns selbst zufrieden.
Wir feilen an unserer Arbeit, polieren sie auf Hochglanz, kontrollieren uns unerbittlich.
Ich empfinde unsere heutige, "hocheffektive" Arbeitswelt ohnehin als manisch, eine gigantische, ungesunde Saftpresse, die uns den letzten Funken Kraft abverlangen kann; nichts für wehrlose, hochensible, feinfühlige Wesen.
Ich verstehe jeden in diesem Forum, der es nicht bis vor die Tür schafft, manchmal nicht mal mehr bis zum Arzt.
Sechs Jahre, 6!!! Jahre habe ich gebraucht, um so weit zu kommen.
Ich kam zurück aus Malta, aus der wildesten Manie, stand ohne alles da.
An Arbeit nicht zu denken, erst einmal durch die Hölle und wieder zurück.
(Ich schreibe demnächst einen Gault Millau der psychiatrischen Einrichtungen, der liest sich sicher unterhaltsam)
Ein Psychiater in der Tagesklinik hat mich angefleht, bittebitte nicht mehr manisch werden, er habe Patienten, die waren Millionäre und stehen jetzt auf der Straße.
Dies ist ein Plädoyer, sich wertzuschätzen.
Ihr seid wertvoll, auch ohne Job, ohne Geld, ohne sogenannte "Perspektiven".
Geld ist kein Maßstab, kein Beurteilungskriterium, keine Lebensversicherung, es kann euch nicht gesund machen, Zeit zurückholen, Liebe schenken oder Jugend, oder euch vor Enttäuschungen schützen.
Es ist ein Tauschmittel wie vieles andere auch, mit guten und schlechten Seiten.
Arbeit, oder jede andere, gleichwertige Form der positiven (!!!) Beschäftigung, kann durchaus auch gute Seiten haben, solange man daraus Kraft schöpft, sich nicht abwerten lässt, sich nach Kräften wehrt, Pausen wichtig nimmt und sich nicht überfordert.
Wer das nicht schafft, ist trotzdem liebenswert.
Ziele sind wichtig, kleine erreichbare Ziele, vorsichtige, manchmal zaghafte Schritte.
Niemals hätte ich geglaubt, dass ich all das erreiche, was ich bisher geschafft habe.
Eine Eigentumswohnung, einen guten Job, Freunde, Wohlstand, Urlaub.
Nach außen würde niemand vermuten, was hinter mir liegt.
Ich will euch einladen, mit mir jeden Tag ein paar Schritte vorwärts zu stolpern, manchmal gibt es vielleicht kleine Umwege, aber versucht, dranzubleiben, es lohnt sich.
Glaubt an euch, und wenn das grade nicht funktioniert, dann versucht jemand zu finden, der das für euch übernimmt.
Es gibt unglaublich viele liebe Menschen da draußen, die haben eine Chance verdient, lasst sie an euch heran und habt Vertrauen, auch wenn ihr tausendmal enttäuscht wurdet.
Habt keine Scheu, euch vom Leben das zu nehmen, was ihr kriegen könnt, ihr habt es verdient, einfach durch eure simple Existenz.
Wenn ihr nicht sprechen könnt, dann schreibt nieder, was euch bewegt, so wie ich hier grade.
Selbst große Veränderungen beginnen mit einem Flüstern.
2-mal bearbeitet. Zuletzt am 18.02.18 14:12.