Ich glaube, du bist subdepressiv. Ich kenne das auch. Ich denke dann immer: das ist halt das normale, langweilige, graue Leben zu dem wir alle verdammt sind... und quäle mich.
Besser ist es, wenn ich mir das bewusst mache und mir erlaube, mich ein bisschen hängen zu lassen bzw. mich halt nicht immer mit anderen vergleiche, wie oft die abends ausgehen, wie oft die zu Hause renovieren, wie oft die übers Wochenende wegfahren... ich versuch dann halt, mich nicht unter Druck zu setzen.
Das spart Energie und manchmal passiert dann etwas. Ich kann dann liegen gebliebene Dinge freiwillig tun (z.B. Akten ordnen oder den Balkon aufräumen). Und ist dann so eine lästige Pflicht abgehakt, ohne dass ich mich quälen musste; weil ich es ja freiwillig getan hab, kann es passieren, dass sich eine kleine Energie freisetzt, die mir einen Impuls in die Richtung gibt, etwas zu tun, was mir gut tut und was ich wirklich will. Z.B. lesen oder ein neues Rezept ausprobieren oder was basteln oder einen Nachmittag lang das wildeste Zeug im Internet recherchieren.
Wie krank ist das eigentlich, frag ich mich grade: wenn ich mich zu etwas zwingen muss, gibt es keine Belohnung, denn ich musste ja gezwungen werden. Nur wenn ich "brav" war und mehr oder weniger in "vorauseilendem" Gehorsam meine Pflicht erfülle, erlaub ich es mir, mir was Gutes zu tun. Himmelarschundzwirn, da steckt doch wieder mal die dämliche Mutter dahinter...
Es hat auch schon geholfen, mir selber zu verordnen, bis zu einer bestimmten Tageszeit nichts machen zu dürfen. Da bekommt man ganz andere Impulse - schließlich dürfen die Impulse keine Konsequenzen haben und man lässt mehr zu. Wenn ich dann den Impuls habe, den Balkon aufzuräumen, kann ich dem in Gedanken viel freier nachgehen, weil ja keine zwingende Umsetzung droht. Ich darf ja nicht vor der und der Uhrzeit. Und das muss ich dann aushalten. Ist genauso schwer wie was machen müssen, aber es nicht können, weil der Impuls fehlt.
Ich glaube, die allerwenigsten Menschen leben heute nach dem, was sie selber wollen und lieben. Die meisten leben auf Aussenwirkung. Und sich davon frei zu machen, das ist nicht leicht. Aber bipo sein hilft, würde ich sagen ;-)
Und nicht auf die anderen hören. Die wissen nämlich oft gar nicht, was sie reden.
Beispiel: meine Kollegen kennen meine Situation. Die wissen, ich hab nen dialysepflichtigen Mann, der mich nicht so unterstützen kann, wie die sich das wahrscheinlich vorstellen - ich bin froh, wenn er mal das Bad putzt oder den Abwasch macht und ich habe kein Problem damit, wenn er es sein lässt, weil er mal Kraft hat, in den Park zu radeln, um dort mit Kindern Fußball zu spielen oder mit anderen Afrikanern zu trommeln und Bier zu trinken.
Ich hole auf, wenn ich mal ein paar Tage frei hab. Wenn ich dann nicht, Thema in diesem Baum, erstmal total durchhänge und auf gar nichts Lust hab. Und trotzdem fragen sie mich jedes Mal, wenn ich sage, "ich hab jetzt mal sechs Tage frei", ob ich wegfahre. Jedes Mal. Und kucken dann betroffen, wenn ich sage: "Es ist zu kompliziert kurzfristig eine Dialyse für meinen Mann zu organisieren, die in der Nähe eines preiswerten Campingplatzes an der Mecklenburger Seenplatte liegt. Ich lege mich auf die Couch und dann seh ich zu, dass ich die Wäsche auf die Reihe bekomme und nach dem Staubsaugen evt. sogar noch wische und versuchen will, mit meinem Mann einen Abend auszugehen, wenn es uns beiden gut geht, wir Lust haben, kein Fußball im Fernsehen läuft und ich andere Menschen sehen will."
Die finden das sicher ganz schrecklich, so ein Leben. Oder sind enttäuscht, weil sie ein anderes Bild von mir haben wollen.
Und dann kuck ich sie mir genauer an. Wie sie manchmal bedröppelt rumlaufen, weil sie wieder an sechs von sieben Abenden total besoffen waren, wie sie wieder keinen ihrer hochtrabenden Pläne in Angriff genommen haben und auf den richtigen Zeitpunkt warten, etwas zu beginnen, wie sie an ihren Fassaden basteln, damit keiner merkt, wie sie eigentlich ihre Zeit verplempern. Studierte 30jährige Singles, die in WGs wohnen und eine 30-Stunden-Woche haben. Und sich am Anschlag fühlen, wenn es mal eine 35-Stunden-Woche wird.
Wie unsicher sie sind, wenn sie sich ein neues Rad gekauft haben und noch nicht wissen, ob einer kommt und sagt: "Was? Für den Schrotthaufen hast du xxx Euro bezahlt... das hätte ich aber nicht, ich kaufe meine Fahrräder nur da und dort, denn nur da und dort, dort gibt es das einzig Wahre, alles andere ist nicht zu gebrauchen..." Und von sowas lassen sie sich dann die Laune vermiesen und ins Zweifeln bringen.
Da muss man dann mal dazwischen grätschen und fragen: "Fährt dein Fahrrad? Konntest du es dir leisten? Sitzt du bequem drauf? Konntest du es schon mal nachts draußen angeschlossen stehen lassen und es war am nächsten Tag noch da? Wenn du damit zur Kaufhalle fährst, ist dann ein Gepäckträger wichtig oder eine gefederte Gabel?"
Einmal bin ich mehr oder weniger spontan weggefahren, als ich ein paar Tage frei hatte und meinen Mann gab es da noch nicht.
Da waren sie dann auch nicht zufrieden, weil es ihren Vorstellungen genauso wenig entsprach, wie mein Alternativprogramm zwischen Couch und Waschmaschine.
Ich fuhr nach Cottbus, weil ich damals grade mit Fürst Pückler beschäftigt war und ich bin zwei volle Tage durch diesen wunderschönen Park dort gelatscht, machte Fotos von diesen ganzen verrückten Sichtachsen in dem Park und hörte einer halben Stunde einem Specht zu und saß abends alleine aber selig in einem urigen Schnitzellokal und redete mit keinem, sondern vertiefte mich in Heftchen und Broschüren und Büchern zu Fürst Pückler und war ganz verzaubert.
Na, da war ich vielleicht der Freak, als ich danach von meinem Urlaub erzählte, kann ich euch sagen!
Wenn mir das nächste Mal ein Kollege erzählt, dass er ein paar Tage frei hat, werde ich ihn fragen: "Und? Welche Bücher willst du lesen? Wie? Keins? Echt nicht? Aber im Urlaub liest man doch! Wie willst du denn sonst dein Gehirn auf Trab halten... immer im selben Gehirntrott bleiben, das ist nicht gut, man muss da auch mal raus, man braucht doch einen Tapetenwechsel... da willst du also echt nur in deinem Kopf drin bleiben? Also ich lese ja viel und natürlich nur die besten Bücher, alles andere ist pillepalle, unter 800 Seiten fass ich sowieso nichts an, denn alles unter 800 Seiten kann nur billigst produziert sein... das du so gar nichts liest! Nichtmal die Apothekerzeitschrift! Das wäre ja nichts für mich, man muss doch wissen, was in der geistigen Welt um einen rum passiert..."
Zum Glück hab ich einen Mann, den solche Luxusprobleme einen Scheiss interessieren. Der lässt auch Leute in die Wohnung wenn es aussieht wie bei Hempels unter der Bettcouch. Statussymbole braucht er nicht, er hat Mützen und Hüte und verrückte afrikanische Klamotten.
Gestern war ich bei meinem besten Freund. Der hat oben gar keine Zähne mehr und seine Situation ist im allgemeinen katastrophal. Wirklich katastrophal. Sein Zimmer ist eine Mischung aus Messiebude und Künstlerwerkstatt und Marihuanaplantage. Er hat Projekte. Viele Projekte. So viele, dass er sie in diesem Leben nicht mehr zu Ende bringen wird. Weil er, bevor er was bastelt, erstmal eine perfekte Werkstatt aufbaut. Die ist so perfekt, dass sein selbst gebauter Werkzeughalter teilweise mit teurem Bastelpapier beklebt wird. Die andere Hälfte der Zeit verbringt er damit, die Sachen, die er sammelt, in ein perfektes Ordnungssystem zu ordnen. Was auch gelingt. Aber er hört ja nicht auf mit Sammeln - ihr glaubt es nicht, aber man kann wirklich alles, wirklich alles, was man zum Leben braucht auf der Strasse finden. Und so muss das Ordnungssystem immer wieder überarbeitet und perfektioniert werden. Er hat ca. 200 Kisten gestapelt und weiss von jeder, was genau drin ist und wie er ran kommt. Nur durchfegen und wischen, das ist jedes Mal eine Mammutaufgabe, die einen halben Tag in Anspruch nimmt.
Wenn ihm dann aber einfällt, das Aufnahmen - er ist Musiker - gerade wichtiger sind, dann baut er das Zimmer wieder in ein perfektes Tonstudio um. "In meinem Kopf", sagt er, "dauert das einen Tag. Aber ich weiss schon, realistisch betrachtet dauert das zwei Wochen."
Wenn er dann zahnlos auf der Straße sitzt mit einem selbst gebastelten Kofferschlagzeug und selbst eingespielten Playbacks und Jazz spielt, haben fast alle Leute einen guten Rat für ihn. Weil sie sich nicht vorstellen können, dass einer Straßenmusik macht, weil er das so will. Die denken, er bettelt und sei ganz arm dran. Dabei ist er einer der ganz, ganz wenigen, die jene Freiheit leben, nach der alle meinen, sich zu sehnen. Die wissen gar nicht, wie weh diese Freiheit tut und wieviel Arbeit diese Freiheit bedeutet.
Die meisten Ratschläge haben damit zu tun, was er tun müsste, um berühmt zu werden. Aber er schert sich einen Scheiss, was andere meinen und für richtig halten, er bleibt stur bei dem, was er will und möchte. Auch wenn das von einer Katastrophe in die nächste führt und er ganz bestimmt nicht mehr berühmt wird, immerhin ist er im Viertel bereits berüchtigt.
Ich geh manchmal ohne BH raus, weil ich BHs noch nie mochte. Ja, man sieht das, die Schwerkraft... ich bin ja nicht unsensibel und kriege die schweigenden Reaktionen darauf mit und bin auch blöd genug, zu wissen, was man im Allgemeinen so drüber denkt... 'kein BH an, das geht ja gar nicht, gesellschaftliche Konventionen über Bord werfen... Ästhetik', pff, sollen sich mal um die Ästhetik ihrer Gedanken kümmern....
Mein Freund sagt sofort, gleich nach der Begrüßung: "Aha. Hast keinen BH an. Das ist wie mit meinen Zähnen. Ich könnte mir ein Gebiss machen lassen. Hatte ich schon. Fühlt sich aber scheisse an und fremd und für wen mache ich es? Doch nur für die anderen. Beine rasieren! Achselhaare! Ohne Achselhaare hätte Nena in den USA nie und nimmer einen Nummer Eins Hit gelandet... wieso soll ich mir die Fußnägel schneiden? Weil man das so macht, etwa? Außerdem, wenn du sitzt, dann hält doch sowieso dein Bauch deine Titten. ....'tschuldigung."
Ohje, jetzt hab ich mich hier wieder reingesteigert... für alle, die bis hier gelesen haben, Fazit: Meine subdepressiven Phasen haben meistens mit Ansprüchen zu tun, von denen ich mir einbilde, es seien meine, weil ich mir einbilde, andere hätten sie an mich und wenn ich genau drüber nachdenke, sind es Ansprüche, die jeder an andere meint, haben zu müssen und wenn ich es zu Ende denke, sind es Ansprüche, die unsere Großmütter in schwereren und anderen Zeiten haben mussten, weil nur darauf Verlass war und Ansprüche, die unsere Mütter haben mussten, weil sie ein Gradmesser dafür waren, wieviel besser sich alles entwickelt, in Zeiten, in denen es nur besser werden konnte. Und unsere Ansprüche, die wir an uns haben, uns von all dem zu befreien... und jeder denkt, er sei erst frei, wenn er das System beherrscht. Schließlich haben uns das ja die wenigen erfolgreichen Start-Ups gezeigt und das geht ja so einfach, man braucht nur ein großes Büro mit Kicker, Nerdbrillen, Turnschuhe und eine Idee für etwas, das gar nicht überflüssig genug sein kann...
Einen Scheiss brauchen wir. Alles, was über eine gewisse Grundhygiene und eine halbwegs gesunde Ernährung hinausgeht ist nicht überlebensnotwendig und alles, was danach kommt, ist es erst recht nicht. Und deshalb sollten wir uns da nicht reinreden lassen.
Ich bin mal gespannt, ob ich dieses Jahr wieder meinen Mann und mich in der Vorweihnachtszeit stresse, um das Weihnachten zu machen, von dem meine Mutter träumt, obwohl wir Weihnachten zu zweit feiern....
Sumosimi
Taat du nee borom djogol, so djoge mu topola.
