Da ich konkret genannt wurde, antworte ich mal sofort, ohne direkt jetzt die späteren Einträge zu lesen...
"Da bei dieser Art von Erkrankung kein Test, kein messbarer Laborwert Aufschluss über den Verlauf oder die Schwere zulassen, ist der genaue Zeitpunkt nicht festzulegen, ab wann ein Mensch sich selbst oder Andere gefährdet.
Sich auf die Menschenrechte zu berufen, ist für mich in dieser Diskussion ein billiges Totschlagargument. "
(kinswoman)
Hier liegt der Hase im Pfeffer, bzw. der Denkfehler.
Wenn man sich den ersten Satz durchliest, wird klar, wie unklar die Rechtslage anscheinend ist und ihre Interpretation erst recht. Von der moralischen Lage mal ganz abgesehen, die nochmal was Anderes ist.
Die Unmeßbarkeit von Gefährdung als Grund für vorsorgliche Entmündigung zu verwenden, das ist ein Totschlagargument. Gefährdung lässt sich nie ausschliessen, also sperren wir einfach alle ein. (Dieses Totschlagargument findet z.B. erschreckend viel Anwendung in der Politik, mit ziemlich genau der gleichen Argumentation. Ein "Gefährder" ist lt. Gesetz jemand, von dem man *annimmt*, dass er eine Gefahr darstellt. Im Ernstfall ist der Nachweis unmöglich. Und damit ist Willkür Tür und Tor geöffnet. Genau diese Argumentation ist z.B. ein gängiges Mittel in totalitären Staaten zur politischen Inhaftierung.)
Die Menschenrechte sind nie ein Totschlagargument. Ich finde es absurd, sowas in irgendeinem Zusammenhang zu sagen. Es war kein Scherz, als ich meinte, die wäre in Deutschland nicht hoch im Kurs. Gerade hierzulande bekleckert sich auch die Psychiatrie nicht mit Ruhm in dieser Beziehung. Die Stellungnahmen internationaler Gremien wie Europäische Kommission für Menschenrechte, Vereinte Nationen etc.pp. sind nicht zweideutig.
Deutschland ist rückständig und uneinsichtig in dieser Beziehung und eben nicht im Recht (international).
Wenn der Zeitpunkt der Fremd- und Selbstgefährdung bei uns immer komplett im Unklaren wäre, dann wären wir bei der Möglichkeit, jeden mit der Diagnose Bipolare Störung jederzeit unter diesem Vorwand entmündigen zu können.
Und das ist NIEMALS das Ziel der Behandlung. Das Ziel der Behandlung ist, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen zu können. Nicht, die Angehörigen zu beruhigen. Die genießen denselben Schutz vor Gewalt und Schaden, wie der Betroffene auch und jeder andere Mensch, nur um das auch klar zu sagen. Aber das rechtfertigt diese freie Interpretation von Fremd- und Selbstgefährdung auf keinen Fall. Wenn jeder Angehörige das frei entscheiden dürfte, wäre ich wohl die letzten Jahre in Unfreiheit gewesen.
Was viele Angehörige vergessen - Betroffene sind in sehr vielen Fällen selbst Angehörige. Ich bin Angehöriger seit der Geburt, also 20 Jahre länger, als ich betroffen bin. Ich bin und war Angehöriger von Bipolaren als Kind, als Bruder, als Enkel, als Beziehungspartner und als Freund. Ich glaube schon, dass ich genug von beiden Seiten über diesen Konflikt weiß.
Und ja, es wäre naiv von mir, nicht jeden Tag damit zu rechnen, dass irgendjemand aus meiner Familie oder meinem Freundeskreis sich umbringen könnte. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt einen Bipolaren persönlich kenne, der noch keinen Suizidversuch hinter sich hat. Ich bin nun knapp 50 und die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch wen begraben werden muss, sind statistisch hoch. Ändern kann ich das nicht. Damit umgehen muss man aber. Bipolare untereinander machen das gerne mit schwarzem Humor. Ich habe nie so viel über den Tod gelacht, wie mit anderen Bipolaren. Es gibt kaum was Erleichternderes zu diesem Thema. Mit nichtbetroffenen Angehörigen ist sowas nie möglich. Die Sichtweise ist so derart anders, dass es auch befremdlich wäre, und es gibt kaum etwas, was die unterschiedlichen Standpunkte so verdeutlicht, wie die Haltung zum Suizid.
Und wenn du dir einbildest, du könntest *irgendjemanden* zum Leben zwingen, dann lebst du aber in einer Traumwelt. Wenn der Betroffene den Lebenswillen verliert bzw. der Sache endgültig überdrüssig ist, hältst du ihn nicht auf. Bei bipolarer Störung ist die Suizidrate und die hohe Effektivität der Suizidversuche aufgrund der Bilanz-Suizide besonders hoch. Das sind die, die nicht im Affekt begründet sind, sondern in einer Lebensbilanz, die für den Betroffenen besonders negativ ausfällt. Das bedeutet, wer diese Art von Suizid begeht, tut dies mit großer Wahrscheinlichkeit unabhängig von einzelnen Phasen als Resümee seines Lebens und seiner Prognose, was oft durch Erlebnisse mit der und durch die Erkrankung von großen Verlusten geprägt ist.
So einen Entschluss hält man nicht auf, außer mit Ketten.
Es ist Hybris, zu glauben, man könne jemanden retten, indem man ihn vor sich selbst schützt, es sei denn, man sperrt ihn für den Rest seines Lebens ein.
Ich weiß, dass vor allem Mütter ein Problem mit der Problematik haben, von Sorge getrieben leider häufig nicht erkennen, wann sie selbst übergriffig werden. Ich sage das ziemlich wertfrei, ich habe selbst eine Mutter, und die ist über 70 und hat immer noch diese Anwandlungen, jemanden beschützen zu wollen und zu helfen, auch wenn das zu weit geht. Aber es ist besser geworden, mit der Zeit und unzähligen Gesprächen.
Ein, ich würde schon sagen - befreundeter - Sozialarbeiter vom Sozialpsychiatrischen Dienst hat mir sehr geholfen, die Angehörigenproblematik und ihre Dynamik zu erklären und mir dabei zu helfen, mich - von meinen Angehörigen - abzugrenzen. Ansonsten würde ich heute ohne Familienkontakt leben (also gänzlich).
Ein wichtiger Satz:
Gut gemeint ist nicht gut getan. In den Momenten, wo meine Angehörigen die Führung über mein Leben übernommen haben, habe ich zum Teil schmerzhaftere Verluste erlitten, als in meinen Phasen/durch meine Phasen. Sowas ist schwer zu verzeihen. Wenn überhaupt.
Ein wirklich wohlgemeinter und von Herzen kommender Rat: Bei erwachsenen Kindern das Erwachsensein stärken und zu eigenen Entscheidungen ermutigen und sich zurückziehen. Ich weiss, dass das nicht einfach ist. Aber ich kenne einige Fälle, wo kein Elternkontakt mehr möglich ist, weil der Absprung hier nicht gelungen ist.
Und ich glaube, kein angehöriges Elternteil will irgendwann später hören, dass es dem Kind ohne seine Eltern bedeutend besser geht, und man für den Rest seines Leben ohne Kontakt auskommen müssen wird. Und leider ist diese Situation absolut kein Einzelfall, sondern relativ häufig. Weil die Eltern von psychisch Kranken das Gefühl nie losgeworden sind, sie müssten für ihre Kinder entscheiden, egal, wie alt diese sind.
Wenn jemand unheilbar an Krebs erkrankt ist, und ihm noch viel Leid bevorsteht, würde - niemals - jemand auf die Idee kommen, dass man ihn zu einer Behandlung zwingen dürfte. Man würde im Gegenteil vielleicht sogar verstehen, wenn dieser Mensch seinem Leben zu einem selbstgewählten Zeitpunkt ein Ende setzt.
Was ist so schwer daran, zu verstehen, dass dies dieselben Rechte sind, die man uns so vehement verwehrt?
Wenn du eine Patientenverfügung machst, die bestimmt, dass du nicht wochenlang an Schläuchen dem Tod im Krankenhaus entgegensiechst, dann gehst du davon aus, dass Angehörige und Ärzte die so rechtlich bindend behandeln, wie du es wünschst.
Wenn du in einer Patientenverfügung in Deutschland verfügst, dass du psychiatrische Behandlung oder z.B. Neuroleptika in jeder Situation ablehnst, dann ist die Patientenverfügung zwar rechtlich gesehen vorhanden, aber praktisch wertlos.
Wir haben die gleichen Rechte, wie andere. Sie werden uns nur verwehrt. Das ist auch ein Grund, warum es in Deutschland eine starke antipsychiatrische Bewegung gibt.
Ich hoffe, das wird jetzt nicht nur im Affekt durchgelesen und sich geärgert, sondern dass der oder die Eine oder Andere anfängt, sich intensiver mit der anderen Seite zu beschäftigen.
Das würde mich freuen.
Ich stehe auf keiner Gegenseite. Dazu bin ich selbst auch zuviel Angehöriger.
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 20.03.17 12:25.