Hallo,
vorweg möchte ich sagen, dass ich den ganzen Diskussionsbaum nicht verfolgt habe und so nicht weiß, was hier schon alles geschrieben wurde. Mir geht es hier vor allem um Erfahrungen, die jemand gemacht hat, ob gute, weniger gute oder schlechte.
Ich persönlich würde keinem Menschen seine Erfahrung absprechen wollen. Meistens war ich auch gar nicht dabei und wie es in einem Menschen aussieht und mit welchen Vorerlebnissen jemand in eine Situation geht, weiß ich auch nicht. Deshalb bleibt die Erfahrung eines Menschen seine Erfahrung.
Mein Vorteil bezüglich Psychiatrien ist, dass ich beide Erfahrungen machen durfte. Zwang, der für mich nicht nachvollziehbar war und mit mir nicht geredet wurde und den Charakter einer Disziplinierung hatte. Hätte ich nur diese Erfahrung machen dürfen und ggf. sogar wiederholt, würde ich mich auch weit von Psychiatrien entfernt halten und alles dran setzen, nie wieder so eine Erfahrung machen zu müssen.
Doch kurze Zeit später durfte ich eine andere Klinik erleben, die den Menschen in mir sah, mich ernst nahm, meine Einwände sehr wohl diskutierten und mit mir zusammen überlegten, wie mir geholfen werden kann. Selbst als ich suizidal wurde, war das für das Klinikpersonal kein Grund Zwang auszuüben, sondern eher mit mir in Verhandlung zu treten. Sicherlich gab es auch da Dinge, die mir nicht so gut gefielen und es war auch von Person zu Person verschieden.
Wenn Menschen so traumatisiert wurden, dass sie noch nach Jahrzehnten daran leiden, würde ich dass eher der Klinik zuschreiben, als dem Menschen selbst. Denn wenn ein Mensch sogar mehrmals eine Klinik nicht als Ort der Genesung erfahren hat, sondern als Ort des Zwanges, der Demütigung, der Würdelosigkeit und Sprachlosigkeit, ist es für mich kein Wunder, wenn dieser Mensch sich von diesem System abwendet. Ich kann es der Person nicht verdenken.
Nichts desto Trotz ist es aber auch so, dass nicht alle diese Erfahrungen machen mussten (Gott sei dank) oder es hinterher sogar als hilfreich für sich selbst empfunden haben. Für einige Menschen ist die Manie oder Psychose das wesentlich beängstigendere, als den in dieser Situation empfundenen Zwang. Und auch da gibt es ja Unterschiede, ob Maßnahmen transparent und nachvollziehbar angewendet wurden, als aller letztes Mittel und so kurz wie möglich. Und wenn hinterher noch ein Gespräch statt findet, über diese Maßnahme und die Empfindungen des Menschen in dieser Zwangssituation ernstgenommen werden, ist es nochmal eine Entlastung mehr.
Die Situation in vielen Kliniken ist alles andere als optimal. Ich bin aber weit davon entfernt, nun allen Machtmissbrauch zu unterstellen. Der Personalschlüssel ist knapp bemessen, teils schlecht ausgebildetes Personal, Druck von Krankenkassen, Krankenhausleitung etc. pp. Aber all diese Dinge können zwar erklären, warum es zu solchen Situationen kommt, die nicht hätten sein müssen, aber entschuldigt nicht, das empfundene Leid, was man diesen Menschen dann antut. Denn letztlich trägt dieser Mensch ein weiteres Trauma mit nach Hause, er muss damit klarkommen, während in den Kliniken der Alltag weiter läuft.
Ich arbeite in einer offenen stationären Einrichtung und vom Personalschlüssel sind wir natürlich gegenüber einer Krankenhausstation mit fast genausoviel Betten, sehr gut ausgestattet. Dadruch kann vieles abgefedert werden und es stehen mehr Möglichkeiten zur Verfügung einem Menschen in einer Krise zu begegnen. Dennoch merken auch wir, wenn mehrere Personen gleichzeitig akut werden, dass das Kräftemäßig an uns zerrt. Da brauchen wir dann schon auch mal eine spezielle Supervision oder eine extra angesetzte kolligiale Beratung (Intervision). Da werden wir schon auch ganz schön gefordert, nicht nur gegenüber diesen krisenhaften Menschen, sondern auch gegenüber all den anderen Bewohnern des Hauses. Es entwickelt sich schnell auch eine Eigendynamik mit allen Bewohnern und Kollegen zusammen. Angemessen und professionell zu aggieren und reagieren ist natürlich immer das Ziel. Aber manchmal ist man auch einfach Mensch, dann bleibt eben hinterher die Entschuldigung, für dass wir dann auch die Größe haben sollten.
Es ist wohl für alle Beteiligten nicht immer einfach und ich hoffe, dass wir mit den UN-Behindertenkonventionen und deren Umsetzung, mit engagierten Menschen auf allen Seiten ein psychiatrisches System entwickeln, welche andere Deeskalationsmöglichkeiten kennt oder weiß, wie man solche Situationen möglichst ganz verhindert, in dem MIT den Betroffenen gesprochen wird und Massnahmen, die nötig sind transparent und nachvollziehbar werden, mit gut geschulten Krisenteams mehr home treatment möglich ist und dadurch Klinikaufenthalte und vor allem Zwangsmaßnahmen eher verhindern hilft. Ganz wird man bei Fremd- und Eigengefährdung sicherlich nicht auskommen, aber auch da ist immer die Frage, wie soetwas gestaltet wird und wie schnell jemand wieder in die Selbstbestimmung zurück geführt wird.
Sorry, viel Text.
Viele Grüße Heike
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Ich bin ein Mensch mit vielen Farben und Facetten zeitweise unterbrochen durch unipolar depressiven Phasen, im MD-Forum schon seit 2002 vertreten.
"Recovery zielt nicht auf ein Endprodukt oder ein Resultat. Es bedeutet nicht, dass man ›geheilt‹ oder einfach stabil ist. Recovery beinhaltet eine Wandlung des Selbst, bei der einerseits die eigenen Grenzen akzeptiert werden und andererseits eine ganze Welt voller neuer Möglichkeiten entdeckt wird. Dies ist das Paradoxe an Recovery: Beim Akzeptieren dessen, was wir nicht tun oder sein können, beginnen wir zu entdecken, wer wir sein können und was wir tun können" (Patricia Deegan 1996).
2-mal bearbeitet. Zuletzt am 12.03.17 13:37.