fehlende Selbstbeherrschung kostet Freundschaft und Arbeitsplatz

26. 01. 2017 11:02
In den Phasen hatte ich immer den Eindruck, den Gefühlen machtlos ausgeliefert zu sein. Ich konnte entweder die Tränen nicht zurück halten oder schimpfte lautstark am Steuer, haute mit der Faust aufs Lenkrad, ging so scharf in die Kurve, dass der Beifahrer sich am Griff über dem Fenster fest hielt. Mein Auto hat heute solche Griffe gar nicht mehr, das damalige fuhr in der Stadt sehr schnell, aber nur 120 auf der Autobahn. Einmal erzählte meine Mutter, mein Freund hätte gesagt, dass er im Auto Angst hätte.

Auch merkte man schnell an meinem Verhalten, wenn ich Richtung Psychose unterwegs war, auch und vor allem auf der Arbeit. Ich war sehr impulsiv und wusste oft nicht, erlebe ich das wirklich, oder bilde ich mir das ein. Irgendwann habe ich mir die Realität so zurecht gerückt, wie ich meinte, so wirds sein. Oft sah ich mich aber als Mittelpunkt, als würden sogar die Radiomoderatoren mitkriegen, was in der Firma gerade passiert, welche Gespräche liefen usw.

In der Depri musste ich mich zwingen, zu grinsen, es klappte auch erst später, anfangs konnte ich meine schlechte Stimmung gar nicht verbergen. Eins hatten die Phasen gemeinsam: Sie beherrschten mich, ich konnte weder mich noch meine Phasen beherrschen. Über Disziplin habe ich auch schon nachgedacht. Das ist, einer Beschreibung zufolge, die Fähigkeit, etwas zu tun, auch entgegen die psychische Verfassung, also wenn man z. B. keine Lust hat.

Dann hatte ich während der Phasen sozusagen eine fehlende Disziplin und fehlende Selbstbeherrschung. Also freundlich sein, obwohl man anderen ab liebsten den Kopf abreißen würde, das passt dann doch auch da hinein? Und vor der Ampel warten, ohne zu schimpfen, natürlich auch. So habe ich zunehmend (im wahrsten Sinn des Wortes!) den Eindruck, meiner Disziplinlosigkeit und der deshalb fehlenden Selbstbeherrschung zum Opfer gefallen zu sein. Hätte ich mehr Disziplin, ich würde heute wohl noch arbeiten und hätte längst abgenommen.

Wenn ich so zurück denke, als Kind hatte ich mehr Disziplin, als später. Ich musste jeden Morgen aufstehen und zur Schule, trotz Bauchschmerzen vor Angst, und die Angst vor den Launen der Mutter, trotzdem bin ich immer wieder nach Hause gekommen. Obwohl ich am Liebsten geschrien und getobt hätte, habe ich still auf der Schulbank gesessen, trotz Schniefnase und Husten quälte ich mich, dem Unterricht zu folgen und keuchte im Sportunterricht den anderen hinterher.

Die Disziplin ist wie ein Muskel: Man kann ihn trainieren. Auf der Arbeit ganz normal die Routinetätigkeiten verrichten, ging am besten am Fließband. Da konnte ich mich einigermaßen beherrschen. Wenn man sich auch noch auf die Sachen konzentrieren muss (Büroarbeit), ist das schwierig. Eben die Gefühle zu beherrschen, das ist eine Sache, die man lernen kann. Dummerweise habe ich das nicht gelernt, manchmal ging es einfach nicht, habe ich mich krank schreiben lassen.

Je weniger man tun muss, z. B. wenn man in Rente geht, umso mehr Disziplin geht verloren, das habe ich auch gemerkt. Wenn man nicht mehr jeden Morgen früh aufstehen und zur Arbeit gehen muss, tut man auch weniger andere Arbeiten gegen seinen Willen. Ich habe immer gedacht, jeden Tag gehe ich widerwillig zur Arbeit, früher ging ich widerwillig zur Schule, immer in diesen ollen Trott, an einen Arbeitsplatz, den jeder Andere auch besetzen kann, wo ich gar nicht fehle, wenn ich zuhause bleibe.

In Japan hat sich jetzt eine Frau umgebracht, weil sie überarbeitet war (Burn Out, Depression). Ich stand ja auch kurz davor, hatte oft Suizidgedanken. Das ist das andere Extrem, zu starke Selbstbeherrschung. Tut man jahrelang den ganzen Tag etwas entgegen die emotionale Verfassung, geht das auch nach hinten los. Nun muss ich mich sozusagen selbst erziehen, jeden Tag ein bisschen mehr arbeiten, momentan habe ich eine Buchübersetzung in Angriff genommen. Auch hier kommt meine Aufschieberitis zum Vorschein, ich lenke mich mit allem Möglichen ab und erfinde Ausreden, weshalb ich gerade nicht schreibe... Da muss ich unbedingt auch noch anknüpfen.

Oft denke ich, hätte ich meine Launen mehr unter Kontrolle, könnte ich mich besser beherrschen, bräuchte ich vielleicht keine Medikamente. Man kennt irgendwann seine Launen, und wer weiß, vielleicht wirds im Alter besser. Aber das weiß ich nicht, es hätte auch so schlimm werden können, dass ich jedes Jahr in die Klapse gekommen wäre.

In dem Fall hätte ich weiterhin schnell jeden Arbeitsplatz verloren. Mein Mann würde auch drunter leiden. Er wusste aber auch ziemlich schnell, dass ich bipolar bin und ist (trotzdem) bei mir geblieben. Eine Freundin hat mich verlassen, der wurde ich zu verrückt. Eine neue habe ich bis heute nicht gefunden. Am Arbeitsplatz war ich zu oft krank geschrieben, und sie verstanden natürlich nicht, dass ich den einen Tag mit Trauermiene da saß und am nächsten Tag fröhlich durch die Gegend spazierte. Oft glaube ich, mit mehr Disziplin hätte ich den einen oder anderen Arbeitsplatz noch. Einfach die Zähne zusammen beißen und so tun, als wäre alles easy. Wenn ich das gekonnt hätte, wäre ich jetzt noch am Arbeiten.

bi-polare Grüße
Bipolara

bipolar1, Autorin, Hobby-Fotografin u. -Komponistin

Nicht nur ich leide unter meiner Krankheit. Die anderen tun es auch manchmal.
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fehlende Selbstbeherrschung kostet Freundschaft und Arbeitsplatz

Bipolara 1203 26. 01. 2017 11:02



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