Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

03. 11. 2008 12:33
Die eine ist: Eine Frau, die allein in der Nachtschicht ist, schaltet ein überlebensnotwendiges Gerät aus und bekommt 10 Jahre. Ein Mann, der ein hilfloses kleines Mädchen erschlägt, kriegt nur 7 Jahre, obwohl dieser Mord wesentlich brutaler ist und ein Aggressionspotential aufzeigt, das die besondere Schwere der Schuld gerechtfertigen würde.

Die anderen habe ich selbst erlebt. Wie die Klassenlehrerin die Mitschüler samt meiner ehemaligen Freunde dazu anstachelte, mich zu mobben, und die Mutter mich auf ihre Empfehlung mit genau dem Haufen in die Realschule schickte, anstatt es mich auf dem Gymnasium versuchen zu lassen. Einmal sitzenbleiben hätte mir nicht geschadet.

Meine Schwester kriegte von klein auf immer alles in den A*** geblasen. Als sie studierte, konnte sie sich eine eigene Wohnung nehmen, die natürlich meine Eltern finanzierten. Sie war erst mit einem Verbrecher verlobt, der sie auch gestalkt hat, musste ihr Auto verkaufen und sich ein Moped anschaffen, und meine Eltern halfen ihr auch aus den Schulden raus. Später, als sie meinen Schwager heiratete, nähte sie sich ihr Brautkleid selbst und die Eltern bezahlten die ganze Hochzeit. Als sie anfingen, ein Haus zu bauen, half der Schwiegervater. Bis heute hilft er finanziell aus, damit sie jedes Jahr teuer verreisen können, meine jüngste Nichte nach Frankreich fahren und die ältere in Bremen studieren konnte. Sie kaufen sich alle 2 Jahre ein neues Auto, haben 2 Hunde, 2 Kinder, Haus und Garten, meine Schwester musste nie hart arbeiten, um sich diesen Luxus leisten zu können. Sie hat einfach reich geheiratet.

Ich habe mein erstes eigenes Auto selbst bezahlt, bin ausgezogen, als ich genug verdiente, war oft froh, wenn ich die Miete bezahlen konnte und ging 20 Jahre lang in irgend eine Tretmühle wie Keksfabrik, Supermarktkassen, Putzen, Registratur oder Briefsortierung; als ich frisch verheiratet war (wir konnten uns keine Verlobungsringe leisten, die haben wir gleich als Eheringe mit genommen), habe ich manchmal Kartuschen weg gebracht und keine neuen gekauft, um für den nächsten Tag einkaufen zu können. Wir haben eine 3-Zimmer-Wohnung mit Garage und können uns nur Mallorca leisten.

Aber betrachte ich mich als vom Schicksal benachteiligt? Weil ich 4 mal in der Klapse war und 12 mal den Arbeitsplatz, 6 mal die Wohnung gewechselt habe? Was gibt es aufregenderes als dieses Leben? Ich war schon immer abenteuerlustig, aber arbeitswütig war ich nach Feierabend nicht mehr. Wozu ein Haus, das macht doch
noch mehr Arbeit! Und warum jahrelang in irgendeiner Tretmühle ackern, wo man die Kollegen kennt, und die erst mal wissen, dass man nicht nein sagen kann oder darf, und einen ausnutzen nach Strich und Faden?

Nee, ich hab das schon richtig gemacht. Und dass meine Eltern für mich kein Geld übrig hatten, sogar mein Sparbuch plünderten, um das alles plus Zinsen wieder drauf zu zahlen, mir keine Freiheit ließen, als ich 16 war, und mich im Zelt hinten einsperrten oder kontrollierten ob ich zuhause war... das hatte damit zu tun, dass die Krankheit bei meiner Mutter schon ausgebrochen war. Kam ich nach Hause, wusste ich nie, wie sie "drauf" ist, sie ist nämlich auch bipolar. Sie wurde glaube ich unberechenbar in den Wechseljahren. Davor war sie auch schon "oft komisch", raunzte meine Freundinnen an oder vergraulte sie.

Ich habe die Chance, es besser zu machen: Keine Kinder in die Welt setzen. Wie oft ich meine Mutter gefragt habe, warum sie mich gezeugt haben, und immer hieß es: "Ich war neugierig, wie ne Mischung aus mir und deinem Vater aussieht und hab mich gefreut". Kinder kriegen - aus Neugier? Versteh' ich nicht. Und: "So ein Baby macht doch kaum Arbeit. Es trinkt Muttermilch, braucht öfter was neues anzuziehen, aber am Anfang sind Kinder nicht teuer". Dass sie aber auch mal schreien, später in der Schule Probleme kriegen und gerne frech sind, hatte sie vergessen. Ich habe ziemlich oft am Ohrfeigenbaum gerüttelt, oft auch ohne es zu wissen.

Aber die Kindheit ist passé, und ich bin froh, nicht Borderline zu sein oder ne multiple Persönlichkeitsstörung zu haben. Mein Leben ist in Ordnung, so wie es ist, und bietet genug Stoff für einen Roman - was will man mehr? Sind manche Menschen vom Leben enttäuscht, weil sie 3 mal die Probezeit nicht bestehen, oder von HartzIV leben müssen und ne Familie zu ernähren haben. Manche finden das ungerecht, was ich aufgezählt habe, aber mit Haus, Kindern und Hunden ist man an seinen Platz gebunden. Das reimt sich. Ist es nicht schön, jederzeit einen Ausflug machen zu können, ohne viel rum zu organisieren? Jeden Tag so zu beginnen, wie man individuell Lust dazu hat... das ist Freiheit.

Was also sind Haus, Auto, Kinder und Hunde gegen Freizeit?

Liebe Grüße
Sabine

w., Anfang 40, verheiratet, kinderlos, bipolar I, Hypothyreose, Insulinresistenz, hohe Leberwerte, derzeit 1 Tabl. Quilonum Retard u. 250 mg Seroquel
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Ne gesunde Verdorbenheit ist besser als ne verdorbene Gesundheit
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Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

bRetthupferl 936 03. 11. 2008 12:33

Re: Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

mintypolo 246 03. 11. 2008 14:19

Re: Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

bRetthupferl 274 03. 11. 2008 17:27

Re: Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

mintypolo 256 03. 11. 2008 18:29

Re: Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

bRetthupferl 266 03. 11. 2008 22:41

Re: Ich denke nach über Ungerechtigkeiten und wie man sie empfindet

Pacwoman 223 06. 11. 2008 18:34

So lange du postest, ziehe ich mich zurück

bRetthupferl 326 06. 11. 2008 19:47



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